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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Vorfälle, von denen die Verfolgung des Kunsthistorikers Konrad Farner in Zürich am lebhaftesten in der kollektiven Erinnerung aufbewahrt worden ist. Es gab aber auch die optimistischen Fünfzigerjahre, die auch, aber nicht nur mit jenem Beschleunigungsschub der Wirtschaft zu tun hatten, der »Wirtschaftswunder« genannt wurde und in der Schweiz weniger heftig als in Deutschland war, weil die intakt gebliebene Schweiz ein solches Wunder weniger benötigte und herbeisehnte als das zerstörte Deutschland. Trotzdem verfügten auch die Schweizerinnen und Schweizer bald über mehr Geld als früher und kauften, wie die Deutschen, Kühlschränke und Autos. Auch in der Schweiz begannen sich die Bürger in Konsumenten zu verwandeln. Städte und Landschaften, die den Krieg unversehrt überstanden hatten, wurden nun, im neuen Frieden, mehr und mehr zerstört. Die Äschenvorstadt in Basel, ein rein mittelalterlicher Straßenzug, der heute zum Welterbe der UNESCO erklärt würde, wurde in toto in Schutt und Asche gelegt. Das Mittelland, eben noch ein paar hundert Kilometer hügeliger Lieblichkeit, begann sich in den hässlichen Siedlungsbrei zu verwandeln, der von St.   Gallen bis Genf nicht weiß, ob er Stadt, Land oder Industriebrache ist.
    Auch und gerade kulturell wurden die Fünfzigerjahre ein Jahrzehnt des Aufbruchs, weil die Moderne der Vorkriegsjahre in der Schweiz, anders als in Deutschland, nicht stigmatisiert worden und nie aus dem öffentlichen Bewusstsein hinausgedrängt worden war. Die Fünfzigerjahre wurden also auch die Zeit der »guten Form«, der Helvetica-Schrift, der neuen Plakatkunst, der Triumphe des Tiefdrucks, wie sie das Du vorführte. Gewiss hatte die Zeit eine depressive Grundierung. Aber sie mobilisierte auch enorm viel optimistische Kraft. Vor allem in den Künsten konnte die Schweiz, anders als Deutschland und Österreich, einigermaßen unbeschädigt da weiterarbeiten, wo sie vom Krieg aufgehalten worden war. Vor allem jene Teile der Moderne, die nicht in den Verdacht geraten konnten, sich dem Faschismus angedient zu haben, blühten auf. Die Konkreten um Max Bill – und dieser selber –, oder der Frisch des Stiller und der Dürrenmatt der Alten Dame . Sie wurden so etwas wie Schweizer Exportschlager, dies gewiss, weil es für ihre Themen und Techniken in Deutschland einen gewaltigen Echoraum gab, vor allem aber, weil sie kraftvoll in ein Vakuum hineinstießen, das zu füllen die deutschen Schriftsteller und Maler noch nicht imstande waren und dessen Unterdruck diese Werke einer weit unbeschädigteren Kultur gierig ansaugte. Das hatte es in unserm Land überhaupt noch nie gegeben: dass wir die Avantgarde und tonangebend waren und nicht, wie bisher stets, die Melodien anderer mehr oder minder kundig mitsummten.
    Indochina, Korea, der Tod Stalins, der Einmarsch der Russen in Ungarn, der Sputnik, die Suezkrise: Auch unsere politischen Blicke starrten nicht mehr auf einen Punkt (dahin, wo die Wehrmacht gerade wütete), sondern gingen nun wieder in alle Richtungen der Windrose. (Zur Suezkrise habe ich übrigens eine Augenzeugenerkenntnis aus erster Hand. Ich war nämlich an jenem 29.   Oktober 1956 auch schon in Cannes, auf einer meiner einsamen Autostoppspritztouren, und stand weit nach Mitternacht am Tresen einer Bar und trank Bier. Um mich herum unzählige Marinesoldaten in weißen Ausgehuniformen, die auf einem Flugzeugträger der US -Navy Dienst taten, der horizontfüllend vor Cannes im Meer wartete. Um ihn herum, ferner und näher, schwarzgraue Kriegsschiffe. Jäh tauchten ganze Schwärme von Militärpolizisten auf – sie waren gnadenlos nüchtern – und sammelten die fröhlichen Marinesoldaten so schnell ein, dass die kaum Zeit fanden, ihr Bier auszutrinken, und gar keine, es zu bezahlen. Im Nu war ich allein an der Bar, zusammen mit dem ebenso verblüfften Barkeeper. Am nächsten Morgen war die gesamte Flotte weg. Abgedampft nach Suez. Ich bin also Augenzeuge dafür, dass a) die Amerikaner den Termin der Aktion der Briten erst fünf Minuten nach zwölf erfahren hatten [wie sonst hätten sie ihre Männer an Land gehen lassen] und dass b) die folgenden militärischen Handlungen von Soldaten durchgeführt wurden, die betrunken oder verkatert waren.)
    Ja, die USA waren in Europa angekommen. Auch die Schweiz warf sich ihnen in die Arme. Jeans, Coca-Cola, die farbigen Bilder aus Hollywood. Und jene mitreißende Musik – was für ein Unterschied zu den Geschwistern Schmid und auch zu den bambini

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