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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Boulevard-Cafés der Côte auf. Greensleeves, Waltzing Matilda, Summertime. Tommy sang – die Herzen schmolzen –, Clive zeigte auf seiner Gitarre, was er in Spanien gelernt hatte, und ich ging mit dem Hut herum. In Marseille, am Vieux Port, sangen wir für Dag Hammarskjöld, der uns – gewiss auch, weil er in Tommy einen Landsmann erkannte – eine so großzügige Spende gab, dass wir uns an einen der weißgedeckten Tische des Restaurants setzten und eine Bouillabaisse bestellten. Dag Hammarskjöld prostete uns von weitem zu, und wir hoben die Gläser zu seinen Ehren. In der Nähe von Turin begann der VW zu husten, am Gotthard funktionierten allenfalls noch zwei seiner vier Kolben, und in Muttenz blieb er endgültig stehen. In Muttenz! Nach, sagen wir, viertausend Kilometern: zehn Kilometer vor dem Ziel und keine fünfzig Meter von der Endhaltestelle der Linie 14 der Basler Verkehrsbetriebe entfernt. Wir nahmen unsere Koffer und stiegen in die Bahn, die hell erleuchtet auf uns wartete. Es war längst dunkel, es war so spät in der Tat, dass wir am Barfüßerplatz gerade noch die letzte 6 nach Riehen erwischten, und dass sogar meine Mutter schon ins Bett gegangen war, als wir die Türklingel an der Wenkenstraße betätigten. (Sie war eine von Fräulein Doktors Vater umgebaute Fahrradklingel und schepperte kläglich.) Meine Mutter freute sich, so unvermutet ihren verlorenen Sohn und einen unbekannten Engländer zu sehen. Sie kochte uns Spaghetti, und es kann sein, dass auch mein Vater und Nora im Pyjama und Nachthemd auftauchten und sich ebenfalls freuten. Am nächsten Tag fuhr Clive mit dem Zug weiter – er gab den vw einfach auf –, ich wusch mir die Haare und schnitt sie wohl auch ein bisschen, zog mir ein ordentliches Hemd an und ging wieder zur Uni, wo meine Kommilitonen wie zuvor an ihren Tischen im Deutschen Seminar saßen und alle im selben Buch wie damals lasen. Ich setzte mich auch an meinen alten Platz, nahm das Buch von einst hervor und schlug es an der Stelle auf, an der ich vor einem halben Jahr zu lesen aufgehört hatte.

DIE Fünfzigerjahre waren ein Aufbruch aus dem Dumpfen. Die Grenzen öffneten sich, auch wenn eine Reise von Basel nach Stuttgart (oder Mailand oder Paris) bis zum Ende des Jahrzehnts ein mühseliges Abenteuer blieb. Vor allem in Deutschland: Eisenbahnfahrten im Schritttempo, in überfüllten Zügen. Von selbstverständlich offenen Grenzen noch keine Spur.
    Obwohl sich die Schweiz also zu öffnen begann, blieb das Leben in vielen Bereichen und noch lange Jahre lang wie schockgefroren von dem erst kürzlich Vergangenen und taute nur langsam wieder auf. Es war oft ein Leben unter einer Käseglocke, eine Zeit der Latenz, in der sich an manchen Orten, aber von den meisten unbemerkt, das vorzubereiten begann, was mit voller Wucht erst am Ende der Sechzigerjahre ausbrach. Ein kritisches Aufarbeiten des Vergangenen und, nach vorne gewandt, ein radikales Suchen nach Neuem. Aber ein Neunzehnhundertachtund fünfzig, das die Geschichte der Väter radikal befragt hätte, wäre undenkbar gewesen. Die Söhne und Töchter waren noch jung, zu jung.
    Die Verhaltenskodizes der Fünfzigerjahre waren so strikt, dass sie wie die reine Natur wirkten. Es schien ein Naturgesetz zu sein – keine gesellschaftliche Verabredung, die man hätte in Frage stellen können –, dass Eisenbahnschaffner, Briefträger oder Hausmeister Respektspersonen waren, vor denen sich auch die Väter fürchteten. Dass ein Herr Professor mehr als ein Herr Doktor war, der mehr war als der Herr Müller. Frauen gab es noch keine, jedenfalls keine in der Politik.
    Obwohl die Schweiz vom Krieg verschont geblieben war und ihm nun entschlossen den Rücken zuwandte, war sie immer noch in allem Fühlen, Denken und Handeln auf ihn bezogen. Natürlich waren die Fünfzigerjahre die ersten, in denen die Schweizerinnen und Schweizer wieder in eine Zukunft zu schauen versuchten, aber sie taten es, als trügen sie das Tonnengewicht eines noch nicht verarbeiteten Traumas mit sich. Und so war es ja auch. Der Massenmord war der Schweiz sehr nahe gekommen, und der Schreck saß allen noch lange in den Knochen.
    Es war vor allem andern die Zeit, in der der Antifaschismus von eben – für viele, wenn auch nicht für alle, war er echt gewesen – in einen Antikommunismus umgepolt wurde, für den es natürlich gute Gründe gab und der dennoch schneller als schnell zu einem Instrument grotesker Verfolgungen werden konnte. Es gab pogromartige

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