Reise zum Rand des Universums (German Edition)
dies: Viele Jahre später hörte ich noch einmal von ihm. Er war nach Zürich zurückgekehrt und hatte sich erhängt.)
Dann lernte ich eine Frau kennen. (Die Besitzerin der Schreibmaschine war mir zu robust, um als Frau durchzugehen.) Ich kam an ihren Tisch in der Mensa zu sitzen, oder sie an meinen. Sie war keine Studentin, sondern eine Hebamme, und durfte, weil sie in einer staatlichen Institution arbeitete, in der Mensa essen. Sie war allein, plauderte unbefangen mit mir, und ich begriff erst später, was für ein Glück ich da bei unserm ersten Zusammentreffen gehabt hatte. Denn normalerweise war sie Teil einer lärmigen Bande aus Hebammenkolleginnen und Assistenzärzten. Sie widersprach meiner Vorstellung von Hebammen radikal. Sie war so jung wie ich, hübsch und lustig. Sie hatte, ein ganz kleines bisschen, ein Fliehkinn. Sie trug einen jener Röcke – rotweißes Karo –, die von einem steifen Unterrock gebauscht wurden, wie eine Glocke aus Stoff, und als sie später mit ihrem Velosolex davonfuhr (ich startete gerade meine Vespa), blähte sich ihr Rock im Fahrtwind, wehte hoch und nahm ihr für ein paar Meter die Sicht. Ein weißes Unterwäschegewimmel. Sie bändigte ihre Kleider bald und lachte, als sie an mir vorbeifuhr. Sie winkte. Ich weiß nicht, wann ich sie wiedertraf, in meiner Erinnerung war es noch am selben Abend (in Montpellier ging alles schnell, was in Basel so zäh dahingeflossen war). Wir saßen jedenfalls, von einer tiefstehenden Sonne geblendet, im Peyrou auf einer Bank. Es war ein Sommerabend, der auch jetzt noch heiß war. Der Peyrou war eine sehr französische Parkanlage. Triumphbogen am einen Ende, Terrassengeländer voller Statuen am andern. Platanen in Reih und Glied. Rolande – sie hieß Rolande, meine Hebamme – trug immer noch ihren gebauschten Rock, aber sie hatte die Haare jetzt geöffnet und, mag sein, die Lippen ein kleines bisschen geschminkt. Sie saß neben mir – sie war entzückend! – und erzählte mir nicht ohne Grimm und Groll, dass sie und ihre ganze Familie kürzlich erst aus Marokko in diesen kalten südfranzösischen Norden vertrieben worden seien, obwohl ihr Papa nichts Böses getan habe. Sie sowieso nicht. Sie war eine pied noir und spie Gift und Galle gegen de Gaulle. Es sei eine Schande, wie er sie, Franzosen vom Scheitel bis zur Sohle, behandelt habe. Einfach fortgejagt aus ihrer Heimat. Ich nickte, obwohl ich dachte, dass de Gaulle eher mit den Algeriern seine Probleme hatte. Sie beruhigte sich dann ja auch, Rolande, und erzählte mir, wie großartig das Leben in Casablanca sei. Am Morgen – in den Wintermonaten wenigstens – könne man im Atlas Ski fahren, und wenn man zurück sei, liege ein Bad im Meer durchaus noch drin. »Wo kann ich hier Ski fahren am Vormittag?«, rief sie. Aber jetzt lachte sie bereits. Es war inzwischen dunkel geworden. Aus unsichtbaren, in den Platanen verborgenen Lautsprechern erklangen Melodien. Schwanensee und Belle nuit ô nuit d’amour. Es war, als ob die Bäume selber musizierten. Wir küssten uns. Bald, fast sofort eigentlich, sagte sie, komm, wir gehen zu mir. Wir gingen, uns weiterhin küssend, durch enge Altstadtgassen und stiegen über verwinkelte Treppen in ihr Zimmer unterm Dach. Ein Bett, ein ungemachtes Bett, und schräge Dachbalken. Die Kleider fielen von uns ab, wir umarmten uns nun auf dem Bett liegend, und bald rief Rolande: »Enfonce!«, wie in dem alten Witz. Ich antwortete aber nicht, dass ich eigentlich Alphonse hieße – ich kannte den Witz ja auch nicht –, sondern tat, wozu sie mich aufforderte. Es war herrlich. Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach sei. Auch Rolande schaute glücklich. Sie war nicht auf die Idee gekommen, dass es mein erstes Mal sein könnte; es war ihr hundertstes oder tausendstes Mal. – Es stellte sich dann heraus, dass sie einen Verlobten hatte, der in Orange seinen Militärdienst ableistete, und dass der Verlobte sie am Wochenende besuchte. Das machte mich noch begeisterter; das war etwas anderes als eine brave Liebschaft des Nordens. Er war der cocu , nicht ich. Als ich am Montag wieder bei Rolande auftauchte, standen auf ihrem Tisch (ja, einen Tisch hatte sie auch) zwei ungewaschene Kaffeetassen, und das Bett war noch zerwühlter als immer schon. Sofort lagen wir wieder ineinander. Das taten wir Nacht für Nacht, ich würde schätzen, sechs oder acht Nächte lang. Vielleicht waren es zwei Wochen. Mehr nicht. An den Tagen fuhren wir mit der Vespa zwischen den Reben
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