Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras
Eisstückchen in den Mund nehmen ließ; schon nach einigen Stunden sank die Anschwellung zusammen und die falschen Membranen stießen sich los; vierundzwanzig Stunden später war Bell wieder auf den Füßen.
Als man sich über das Verfahren des Doctors wunderte, antwortete dieser:
»Hier zu Lande sind die Halsentzündungen einheimisch, und das Heilmittel dagegen muß nahe dem Uebel sein.
– Das Heilmittel und besonders der Arzt«, fügte Johnson hinzu, in dessen Augen der Doctor zu wahrhaft pyramidalem Ansehen stieg.
Während dieser neuen Muße beschloß der Letztere mit dem Kapitän eine wichtige Auseinandersetzung zu veranlassen; es handelte sich darum, Hatteras darauf zurückzuführen, daß der Weg nach Norden unternommen werden solle, ohne eine Schaluppe, ein Canot, ein Stück Holz mitzunehmen, um mit ihm die See oder Meerengen zu überschreiten. Der Kapitän, der unbeugsam auf seinen Ideen beharrte, hatte sich ja in aller Form gegen die Erbauung eines Fahrzeuges aus den Resten des Porpoise ausgesprochen.
Es wurde demnach dem Doctor nicht leicht, jenes Thema anzufassen, und doch war es wichtig, dasselbe gründlich bis zur Entscheidung zu behandeln, denn bald mußte nun ja der Juni die Zeit der größeren Ausflüge herbeiführen. Nach reiflicher Ueberlegung nahm er Hatteras endlich einmal bei Seite und sprach zu ihm mit dem Ausdrucke sanfter Freundlichkeit:
»Hatteras, halten Sie mich für Ihren Freund?
– Gewiß, erwiderte der Kapitän schnell, für den besten, vielleicht für den einzigen.
– Wenn ich Ihnen einen, wenn auch unverlangten Rath ertheile, fuhr der Doctor fort, glauben Sie, daß ich das aus Eigennutz thue?
– Nein, denn das persönliche Interesse hat nie Ihre Handlungen bestimmt; aber wohinaus zielen Sie?
– Erlauben Sie mir noch eine Frage, Hatteras; halten Sie mich für einen eben so guten Engländer als Sie, und für eben so ehrgeizig auf den Ruhm unseres Vaterlandes?«
Erstaunt maß Hatteras den Doctor mit den Augen.
»Ja, erwiderte er, und forschte mit den Augen nach dem Zwecke seiner Fragen.
– Sie wollen bis zum Nordpol vordringen, fuhr der Doctor fort; ich begreife Ihren Ehrgeiz, ja, ich theile ihn; aber um dieses Ziel zu erreichen, würden wir nichts Nothwendiges unterlassen dürfen.
– Nun, habe ich bis jetzt nicht Alles diesem Zwecke geopfert?
– Nein, Hatteras, Ihr persönliches Widerstreben haben Sie nicht geopfert, und noch jetzt sehe ich Sie die unumgänglichsten Hilfsmittel, den Pol zu erreichen, ausschlagen.
– Aha, fiel Hatteras ein, Sie wollen von jener Schaluppe, von jenem Manne sprechen …
– Hatteras, wir wollen ganz ruhig und kaltblütig verhandeln, und die Sache von allen Seiten betrachten. Diese Küste, auf der wir den Winter zugebracht haben, kann unterbrochen sein; Nichts giebt uns einen Beweis, daß sie sich durch sechs Breitengrade bis zum Pole erstrecke; wenn die Angaben, welche uns bis hierher führten, sich bestätigen, so werden wir während des Sommers eine große Fläche freien Wassers vorfinden. Nun, und wenn wir vor dem Arktischen Ocean stehen, der frei von Eis, aber ohne Hinderniß für die Schifffahrt ist, was werden wir beginnen, wenn uns die Mittel fehlen, darüber zu setzen?«
Hatteras antwortete nicht.
»Wird es Ihnen genehm sein, sich wenige Meilen vom Pole entfernt zu befinden, ohne bis dahin gelangen zu können?«
Der Kapitän hatte den Kopf in die Hände sinken lassen.
»Und nun, betrachten wir die Frage einmal vom moralischen Standpunkte aus. Ich begreife, daß ein Engländer sein Vermögen, ja, seine Existenz einsetzt, um England ein neues Lorbeerblatt zu erwerben. Aber weil ein Boot aus einigen, von einem amerikanischen Schiffe genommenen Planken gezimmert worden ist, kann das die Ehre der Entdeckung schmälern? Und wenn Sie nun selbst hier ein verlassenes Schiff aufgefunden hätten, würden Sie Anstand genommen haben, sich seiner zu bedienen? Kommen nicht dem Chef einer Expedition allein die Früchte des Erfolges zu? – und ich frage Sie noch, wird denn diese Schaluppe, welche vier Engländer erbauen, und vier Engländer bemannen, wird sie nicht vom Kiel bis zum Deck eine englische sein?«
Hatteras schwieg noch immer.
»Nein, nahm der Doctor wieder das Wort, sprechen wir offenherzig, nicht die Schaluppe liegt Ihnen am Herzen, sondern der Mann.
– Ja, Doctor, ja, erwiderte der Kapitän, dieser Amerikaner, der meinen ganzen englischen Haß wachruft; dieser Mann, den das Schicksal mir in den Weg werfen mußte
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