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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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knisterte, als seien die Beine, der Weg, aus Plastik und dünn. Und die Schuhe nicht stark.
    Irene merkte am Knistern der Tüte, daß sie schneller ging.
    Auf der nächsten Bank saß ein Mann. Er legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: Georg. Rief in alle Richtungen des Parks. Seine Stimme änderte sich zwischen demselben Namen.
    Der Mann sah Irene ins Gesicht. Hatte nur Augen. Er fragte: Hast du nicht den Elektriker gesehn.
    Er sagte das Wort Elektriker so, als wäre ein Mann zuständig für alle Lichter der Stadt.
    Irene schüttelte den Kopf. Wollte sich schneller, als sie denken konnte, von der Bank entfernen. Da ging der Mann schon über den Kiesweg quer durchs Gras.
    Irene spürte ein Steinchen im Schuh. Sie griff in die Tüte. Spürte eine Hand an der Hand.
    In der Seitenstraße wich sie der Kastanie aus. Sie stellte sich die Straßenecke vor, die man, wenn man der Kastanie ausgewichen war, noch nicht sah.
    Als sie die Straßenecke erreicht hatte, stellte sich Irene die nächste Straßenecke vor.
    Die erste Person, die mir hinter der nächsten Straßenecke entgegenkommt, wird ein Mann sein, dachte Irene. Die erste Person war eine Frau.
    Irene berührte im Vorbeigehen absichtlich die Hand der Frau. Die Frau merkte es nicht.
    Dann beschloß Irene, die erste Person, die ihr nach hundert Schritten entgegenkommt, zu fragen: Hast du nicht den Elektriker gesehn.
    Nach hundert Schritten konnte Irene dem Mann, der vorüberging, die Frage nicht stellen.
    Fünfmal konnte Irene der ersten Person, die vorüberging, die Frage nicht stellen.
    Dann hatte Irene das Geländer einer Brücke erreicht. Schaute hinunter auf die rostigen S-Bahngleise. Ein Vogel pickte an einem aufgeplatzten Schuh.
    Ein Mann, er ging langsam, kam vom anderen Ende der Brücke auf Irene zu.
    Irene erwartete ihn. Er sah zu Boden. Horchte vielleicht auf den Klang seiner Schritte.
    Als der Mann an Irene vorbeiging, sah sie ihm ins Ohr:
    Hast du nicht den Elektriker gesehn.
    Der Mann blieb stehen, mitten zwischen zwei Schritten:
    Nicht, daß ich wüßte.
    Er schloß den Mund und drehte sich um.
    Dann sah Irene seinen Rücken mit dem einen Auge und mit dem anderen die Gleise.
    Und als der Rücken des Mannes die ersten Häuser erreicht hatte, war Irene nicht sicher, ob nicht sie es war, die so langsam die Straße runter ging.
    Dann war die Straße leer, und das schiefe Licht durchleuchtete die Häuser.
    Der Vogel war weggeflogen.
    Die Schatten der Bäume lagen wie Vertiefungen auf dem Asphalt. Dahinter war die Unterführung.
    Und hinter der Unterführung, fragte Irene. Sie wollte mit dem Satz des Mannes antworten und diesem Satz eine Bestimmtheit geben:
    Wie gesagt, nicht, daß ich wüßte.
    Im Vorzimmer knipste Irene das Licht an. Zog die Schuhe aus. Fand im Schuh einen Kiesstein. Trug ihn ins Zimmer. Ging rasch.
    Irene erwartete, daß in der Wohnung das Licht ausging, weil sie nicht wußte, wer Georg war.
    Die Fensterscheibe widerspiegelte die Lampe. Die hing, weil es draußen dunkel war, mitten im Innenhof noch mal als weiße Kugel an einer Schnur.
    Irene hielt den Kiesstein in der Hand. Wußte nicht, wo sie ihn hinlegen sollte. Ließ ihn auf die Erde im Blumentopf fallen.
    Auf dem Fensterbrett lag ein Wimpernhaar. Irene blies. Es klebte am Holz.
    Irene feuchtete die Fingerspitze an und nahm es. Wußte, es war nicht von ihr. Warf es auf die Erde im Blumentopf.
    Im Fernseher spielte eine Band. Die Musik und das Strahlen des Lichts berührten sich. Irene war ausgeschlossen.
    Sie legte die Hände auf den Tisch und spürte sie auf der Stirn. Und noch etwas spürte Irene: Daß sie in irgendeinem Augenblick, der entscheidend gewesen sein mußte, alles versäumt hatte.
    Irene wußte nicht, wann dieser Augenblick gewesen sein konnte und wie sie ihn hätte erkennen sollen. Auch, was sie versäumt hatte, wußte Irene nicht.
    Sie ging durch die Wohnung und löschte die Lichter aus. Zuerst im Vorzimmer. Dann in der Küche. Dann im Bad. Dann im Zimmer.
    Irene lag im Bett und hatte den Eindruck, ihre eigenen Augäpfel leuchten zu sehn.
    Irene dachte an das beleuchtete Viereck:
    Ein kleines Zimmer, eine Nachtlampe, ein großes Bett in der Zimmerecke. Am Fußende des Betts ein Kühlschrank. Die Nachtlampe brannte.
    Ein Mann lag nackt im Bett. Die Frau ohne Bluse stand am Fußende. Sie streifte die Strumpfhose und das Höschen in einem an den Beinen runter.
    Sie griff sich in den Nacken. Sie öffnete den Verschluß einer schweren braunen Halskette. Die

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