Reiterferien am Meer
schmale Jungengestalt mit eingezogenen Schultern: Lenny!
„Wie froh bin ich, dass du da bist, Lenny!“, rief ich hinunter. „Gerade habe ich deinetwegen Albträume gehabt! Wo kommst du denn jetzt her? Warum bist du untergetaucht? Hat dein Vater dich verprügelt? Bist du noch einigermaßen beieinander?“
„Hör schon auf!“, lachte Lenny, und im Mondlicht sah ich, dass sein Gesicht wirklich fröhlich war. „Schau mich nicht an wie ein Gespenst, und mach kein so entgeistertes Gesicht!“
„Einen Augenblick, Lenny!“ Babs war neben mir ans Fenster geeilt. „Ich komme hinunter und lasse dich herein.“
Gesagt – getan! Zwei Minuten später waren wir alle drei in der Küche versammelt. Stürmisch begrüßten wir den unerwarteten Besuch. Babs kochte schnell einen großen Topf Kakao, und ich stellte eine Platte mit Tante Dis selbst gebackenen Kuchen auf den Tisch. Gierig verschlang Lenny das improvisierte Mahl. Und dabei berichtete er mit vollem Mund, welche dramatischen Erlebnisse er seit dem Telefongespräch gehabt hatte.
„Was blieb mir übrig, als wegzulaufen?“, sagte er. „Ich durfte doch nicht auf den Hof zurück, denn dort würde Vater mich zuallererst suchen; und falls er mich fand, darüber war ich mir klar, würde er mich halb totschlagen!“
„Da magst du recht haben“, knirschte ich.
„Und wie bist du hierher gekommen?“, wollte Babs wissen.
„Fünfzehn Kilometer weit ging es auf Schusters Rappen“, grinste der Junge. „Dann erreichte ich die Tankstelle an der Autobahn, und da wartete ich so lange, bis ein Fernfahrer mich bis zur Abfahrt East Down mitnahm. Dort fragte ich nach dem kürzesten Weg nach Marston, und man zeigte mir die Abkürzung durch die Heide. Na, Abkürzung? Jedenfalls lief und lief ich viele Kilometer – und nun ist mir zumute, als hätte ich die Beine bis zu den Knien abgenutzt.“
Er verzog das Gesicht und stopfte sich den Mund mit einem riesigen Bissen Kirschkuchen. Dabei schaute er uns an wie ein Schiffbrüchiger, der soeben aus der tobenden See gezogen und vor dem Ertrinken gerettet worden ist. Seine Stimme klang froh und überglücklich.
„Kinder, ist das prima, wieder bei euch zu sein!“, rief er aus. „Jackie und Babs, ihr seid doch meine besten Freundinnen!“
„Wir sind genauso froh, dich bei uns zu haben, Lenny!“, lachte Babs.
„Natürlich bleibst du jetzt für den Rest der Ferien hier!“, fügte ich hinzu.
„Damit rechne ich auch“, sagte der Junge verträumt, als könne er sein Glück noch nicht fassen. „Ich wäre ja schon viel früher hergekommen, aber ich wollte die Leute auf dem Hof, wo ich arbeitete, nicht im Stich lassen. Vor dem Ende der Schafschur konnte ich wirklich nicht fort.“
„Hier jedenfalls stöbert dein Vater dich nie im Leben auf“, versicherte ich ihm, während Scamp ihm die Pfote aufs Knie legte und ein Stück Kirschkuchen aus der schmutzigen Jungenhand nahm. „Hier bist du in Sicherheit.“
„Mach dir nur nichts vor!“ Lenny schüttelte den Kopf, und sein Blick trübte sich. „Wenn der will, findet er mich überall. Vor ihm bin ich nur sicher, solange er im Knast ist!“
Ein paar Tage später schrieb ich den Brief an meine Eltern weiter.
Kaum hatten wir Lenny erzählt, dass Tante Di und Steve Rowlands in Nymington waren, da rief er sofort an und berichtete ihnen, dass er in Sicherheit sei. Inzwischen waren an Tante Dis Haustüren neue Schlösser montiert worden, und die Polizei hatte versprochen, ein Auge auf den Hof zu werfen.
So trafen Di und Steve schon am nächsten Tag wieder bei uns ein, und heute ist Lenny bei uns und auf dem Folly-Hof so zu Hause, als wäre er schon immer hier. Er hat sich großartig in unsere Gemeinschaft eingefügt. Alle haben ihn gern; arbeiten kann er für zwei, von Pferden versteht er etwas – und sie verstehen ihn. Sogar Tearaway lässt sich von ihm buchstäblich um den Finger wickeln.
Auch Golden Boy hat ihn ins Herz geschlossen. Lenny hat Steve sogar dazu gebracht, ihn mit Wassergüssen aus dem Schlauch zu behandeln: Eine Stunde lang hat er die Beine des Pferdes bespritzt, um jede Entzündung, die sich nach dem anstrengenden Galopp entwickeln könnte, im Keim zu ersticken.
Ich wette, dass Golden Boy sich diese Rosskur von keinem anderen als Lenny gefallen ließe. Und der Erfolg stellt sich schon ein: Steve Rowlands unternimmt wieder seine vorsichtigen Ausritte, und Lenny versorgt das Pferd ganz allein. Golden Boy ist offensichtlich begeistert von allem, was man mit ihm
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