Reiterferien am Meer
Erlebnisse überschaue, wird mir nachträglich bewusst, dass Carol seit einiger Zeit ihre Tätigkeit als Hilfsausbilderin in der Reitschule ausgesprochen teilnahmslos ausgeübt hatte. Sogar ihr Springen verlor allen Schwung, jede Begeisterung. Auch in diesem Augenblick, da ich ihr zuschaute, saß sie völlig uninteressiert im Sattel und ließ das Pferd tun, was es wollte. Fast war es, als befände sie sich in Trance, als wolle sie krampfhaft vor allen ihre wirklichen, höchst unglücklichen Gedanken verbergen.
Doch der inzwischen vorzüglich ausgebildete Starshine vollführte seine Sprünge auch ohne Mitwirkung der Reiterin makellos. Die Hindernisse der Übungswiese nahm er mit Leichtigkeit – und doch überlegte ich, wie er sich in Sheepdown auf fremdem Platz und in Konkurrenz gegen erstklassige Gegner bewähren würde.
Unseren beobachtenden Blicken entging es nicht, dass Starshine die Geistesabwesenheit seiner Reiterin spürte und allmählich nachließ. Er machte Fehler, warf den oberen Balken eines Dreiers ab, riss ein Stück der Mauer ein und preschte endlich in unglaublicher Weise durch eine Hecke.
Nun hielt Don es nicht mehr aus; er musste sich einmischen.
„Was ist los, Carol!“, rief er, indem er hinzulief und Starshine abfing, als die Runde zu Ende war. „Ist dir nicht wohl, Schwesterherz?“
Carol schüttelte seine Hand von dem Zügel.
„Mir geht es ausgezeichnet“, versicherte sie unwirsch. „Rede doch keinen Quatsch! Schließlich hat jeder Reiter seine guten und schlechten Tage. Auf dem Turnier bin ich bestimmt okay.“
„Bestimmt nicht, wenn du so weitermachst!“, erklärte Don mit fester Stimme, und er dachte nicht daran, Starshines Leine loszulassen. „Auch das Pferd wird nachlässig. Die Schuld liegt bei dir, Carol. Was ist eigentlich los? Wir alle merken, dass du anders bist als sonst. Verkrieche dich doch nicht so in dich! Bitte, raus mit der Sprache!“
Mit düsterem Blick schaute Carol den Bruder an.
„Meinst du, ich sähe nicht, was sich zwischen Vater und Di anspinnt? Natürlich hast du selbst nichts bemerkt – du hast ja nichts als deine Zukunft als Turnierreiter im Kopf!“
„Mensch, Carol!“ Don runzelte die Brauen. „Was meinst du denn damit?“
„Nur das, was ich sehe!“ Erschrocken bemerkte ich, dass Carol den Tränen nahe war. „Ich habe nämlich im Gegensatz zu dir Augen im Kopf!“
„Du sprichst in Rätseln!“ Don begriff kein Wort. „Nun werde doch mal deutlicher!“
„Wenn du vor lauter Blindheit nichts merkst, dann brauche ich dir auch nicht die Augen zu öffnen!“, herrschte Carol den Bruder an. „Mensch, mach doch kein so verdattertes Gesicht! Du wirst schon selbst dahinterkommen!“ Und dann schaute sie zu meiner großen Verblüffung mich an. „Lass es dir nur von Jackie erzählen! Sie hat sich ja genügend als Amor mit dem Pfeil betätigt!“
Unwirsch entriss sie dem Bruder die Zügel, gab Starshine die Hacken und galoppierte in die Bahn. Es wurde ihre erste fehlerfreie Runde an diesem Tag!
Zutiefst erschrocken schaute ich ihr nach. Wie kam Carol nur auf so düstere Gedanken? Warum freute sie sich nicht mit uns darüber, dass ihr Vater und unsere Tante vielleicht heiraten würden?
Don kratzte sich den Kopf und wandte sich dann achselzuckend an Babs und mich.
„Begreift ihr, worauf Carol hinauswollte?“
„Hm, in gewisser Hinsicht schon“, gab ich zögernd zu. Was sollte ich sagen? Welchen Reim sollte ich mir auf Carols unvermuteten Widerstand machen? Schließlich verstand ich selbst kaum, was da vorging. Brauchten Carol und Don gerade zu dieser Zeit die einfühlsame Führung eines Erwachsenen? Vor kurzem erst war ihre Mutter unter so traurigen Umständen gestorben; die Kinder hatten den Verlust noch längst nicht verarbeitet – und nun sollten sie sich mit dem Gedanken an eine zweite Mutter vertraut machen? Allmählich verstand ich, in welchem Zwiespalt der Gefühle Carol sich befand.
„Was ist los?“, beharrte Don. „Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.“
Babs und ich sahen uns ratlos an. Sollten wir ihm Auskunft geben? Nie im Leben war uns der Gedanke gekommen, dass Carol und Don die Aussicht auf eine Heirat ihres Vaters und unserer Tante nicht ebenso begeistert begrüßen würden wie wir. Es war ziemlich gedankenlos von uns gewesen, das gab ich zu, Carols Gefühle zu missachten. Wie konnte eine andere Frau – und sei es unsere einmalige Tante Di – Carol und Don ihre Mutter halbwegs ersetzen?
„Also los!“
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