Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
können.
Rebekka füllte dem Meister und mir noch etwas Suppe auf und gestikulierte mit dem Löffel.
„So wie Ihr habe ich zuerst auch gedacht, Mijnheer. Aber die Gemüsefrau hat noch etwas erzählt. Dieser Polizeihauptmann hat gleich nach seinem Amtsantritt eine neue Anordnung erlassen. Jeder Bürger, der ein Vergehen anzeigt oder einen Dieb gefangen nimmt, soll eine Belohnung erhalten. Na, was sagt Ihr jetzt?„
Der Meister runzelte die Stirn, doch Rebekka wartete eine Antwort erst gar nicht ab.
„Wenn das stimmt, dann kann demnächst jeder seinen Nachbarn, mit dem er im Streit liegt, anzeigen. Ich denke nur an unsere Nachbarin, an die Frau des Fischhändlers. Diese Person ist ein Drachen, und ihr passt meine Nase nicht. Wie leicht kann so ein zänkisches Weib einer alten, ehrbaren Magd etwas anhängen, hä? Wenn vielleicht einmal ein Hering aus ihrem Salzfass fehlen sollte. Den sich aber in Wirklichkeit die Katze geholt hat. Herrje, was sind das für Zeiten.“
Jetzt wiederum musste ich Rebekka Recht geben. Zwar hatte ich die Nachbarin stets höflich und zuvorkommend erlebt und glaubte, dass vielmehr der Umgang mit der alten Magd manchmal schwierig war. Aber auch üble Nachrede war eine Sünde gegen den Herrn. Das Leben in der Stadt mit seinen vielen Regeln war bei weitem verwirrender als das auf dem Land. Ich würde mich wohl nie daran gewöhnen.
Am nächsten Morgen war mir elend zumute. Fast die ganze Nacht hatte ich wach gelegen und mich mit dem Gedanken gequält, dass ich Amsterdam in nicht allzu ferner Zukunft verlassen müsste. Ich ging zur Westerkerk, weil ich an diesem Ort neuen Mut zu finden hoffte. Feierliche Musik erfüllte das hohe, weite Kirchenschiff. Ein Chor probte Psalmen und Hymnen zum Lobe des Herrn. Der Organist schlug in die Tasten, dass die Orgelpfeifen brausten.
Bürger in schwarzen Taftkleidern, wie sie in den vornehmeren Vierteln zwischen Prinsengracht und Dam wohnten, flanierten im Kirchenschiff. Wenn sie Bekannte trafen, lüfteten sie den Hut oder blieben hier und da zu einem Zwiegespräch stehen.
Obwohl es erst früh am Tag war, hatte eine beleibte Dame schon mehrere Perlenketten und Armringe angelegt, als sie auf dem Weg zu einem Fest. Sie führte einen kleinen weißen Hund mit Lockenfell, kaum größer als eine ausgewachsene Ratte, an einer silbernen Leine spazieren. Er trug eine winzige, schwarzblaue Seidenweste, die aus demselben Stoff gefertigt war, wie das Kleid seiner Herrin. Als der Hund an einem Pfeiler sein Bein hob und sich unter ihm eine Pfütze bildete, nahm die Frau ihn schnell auf den Arm und tippelte unter aufgeregtem Flüstern und zahlreichen Liebkosungen mit ihm ins Freie.
Ich lehnte mich an eine der hohen Säulen, blickte hinauf zur Kuppel und erflehte die Hilfe des Allmächtigen, dem ich wortlos alle meine Nöte und Sorgen anvertraute: dass der Meister vielleicht seinen großen Auftrag verlieren würde, dass ich schon bald Pinsel und Palette gegen Maßband und Nähgarn tauschen müsste und dass aus mir wohl niemals ein berühmter Maler werden würde.
Nach einer letzten Fürbitte ging ich wieder nach draußen, lief das kurze Stück an der Prinsengracht entlang bis zur Brücke, hinter der das Jordaan-Viertel begann. Meine Augen mussten sich erst wieder an das helle Tageslicht gewöhnen. Ich blinzelte und sah, wie zahlreiche Menschen aus allen Richtungen zusammenströmten. Sie hasteten an der Kirche vorbei Richtung Stadhuis. Einige krakeelten, andere schlugen mit einem Stock auf Töpfe oder Kessel.
„Worauf wartest du noch, Junge?“, rief mir ein alter Mann zu. „Komm mit, das Spektakel sollte sich niemand entgehen lassen.“
Noch ehe ich wusste, wie mir geschah, packte er mich am Ärmel und riss mich mit sich fort. Stolpernd lief ich neben ihm her bis zum Dam. Es sah so aus, als sei alles, was in der Stadt zwei Beine hatte, hier zusammengekommen. Dicht gedrängt standen die Menschen nebeneinander und starrten wie gebannt auf irgendetwas in der Mitte des Platzes.
„Kinder nach vorn! Erwachsene zurückgetreten“, ertönte eine energische Männerstimme.
Um besser sehen zu können, stellte ich mich auf die Zehenspitzen. Doch viel mehr als die breitkrempigen Hüte der ehrbaren Bürgersleute konnte ich nicht erkennen. Da entdeckte ich ein paar Meter weiter, vor einem Fuhrgeschäft, ein leeres Heringsfass.
Ich stieg hinauf und sah, dass vor dem Stadhuis ein Holzpodest errichtet war, auf dem sich ein seltsames Gerüst befand. Zwei Männer standen
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