Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rembrandts Vermächtnis (German Edition)

Rembrandts Vermächtnis (German Edition)

Titel: Rembrandts Vermächtnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Guggenheim
Vom Netzwerk:
einer Lanze auf den Boden. Sogleich verstummte das Publikum.
    „Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für die heutige anatomische Demonstration. Sie wird gehalten vom Praelector der Chirurgengilde unserer hohen Stadt, von Professor Adriaen van Campen.“
    Die Studenten beendeten ihre Debatten und eilten zu den Plätzen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich in der Mitte des Saales ein Tisch befand, der mit weißen Tüchern abgedeckt war. Darunter konnte man die Umrisse eines menschlichen Körpers erkennen, nur die Beine und Füße ragten heraus.
    Die Zuschauer tuschelten miteinander und reckten die Hälse, als der Professor das Theater betrat. Mit einem kurzen Kopfnicken grüßte er in die Runde. Dann gab er dem Diener ein Zeichen, der nun auch die anderen Ärzte hereinrief.
    „An seiner Seite werden stehen die Doctores Marten Fonteijn, Daniel Vis, Laurens van Miereveld sowie Abraham Calcoens und Thomas Block.“
    Die genannten Assistenten nahmen am Ende des Tisches Aufstellung, dort, wo sich der Kopf des Toten befand. Atemlose Stille herrschte, als der Professor, der sich zu Füßen des Toten in Positur geworfen hatte, mit seinem Vortrag begann.
    „Wertes Publikum, erinnern wir uns daran, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und dieser Krone der Schöpfung eine großartige Mechanik mitgegeben hat. Wenn wir dieses Wunder begreifen wollen, dürfen wir uns nicht allein auf die überlieferten Lehrmeinungen des Hippokrates oder Galenos stützen. Wir selbst müssen uns Kenntnis davon verschaffen, wie der Mensch gebaut ist, wie sein Blut fließt, seine Knochen und Sehnen zusammengesetzt sind.“
    Der Professor winkte den Diener zu sich, der ihm ein Tablett mit chirurgischen Instrumenten reichte.
    „Dank eines ausgeklügelten Halte- und Bewegungsapparates ist es dem Menschen möglich, aufrecht zu gehen. Eine Eigenschaft, die ihn von allen anderen Lebewesen auf dieser Welt unterscheidet und über sie erhebt.“
    Der Professor griff zum Skalpell. Ein Raunen ging durch die oberen Reihen.
    „Das werte Publikum möge nun sehen, wie ich einen Einschnitt vom Unterschenkel bis zum Fuß vornehme und sodann das Gewebe so weit auseinander ziehe, dass die Muskulatur und die Sehnen sichtbar werden.“
    Einige ältere Ratsherren setzten ihre Kneifer auf und beugten ihre Oberkörper vor, während der Professor in das bleiche, fahle Fleisch schnitt. Gebannt folgten die Assistenten mit den Augen der Hand des Professors, die das Skalpell mit derselben Schnelligkeit und Sicherheit führte wie der Meister den Pinsel.
    Mit einer Pinzette holte der Professor etwas Helles, Schnurähnliches hervor. Er trat zur Seite, damit allen Anwesenden sich von der Richtigkeit seiner Worte überzeugen konnten.
    „Was wir hier sehen, ist zwar nur die Sehne eines menschlichen Fußes. Doch diese ist zugleich ein Beispiel für die geniale Konstruktion des menschlichen Körpers.“
    Als der Professor wieder an seinen Platz zurücktrat, blieb sein Mantelärmel an dem Tuch hängen, das den Oberkörper des Toten verdeckte. Langsam glitt der Stoff über den Tisch, fiel zu Boden und entblößte Gesicht und Brustkorb des Toten. Wie von Ferne hörte ich den Aufschrei der Menschen. Um mich herum wurde es dunkel.

    Jemand hielt mir ein Glas Wacholderschnaps unter die Nase. Ich trank einen winzigen Schluck und hätte ihn fast wieder ausgespuckt, so scharf brannte mir der Alkohol auf der Zunge. Offensichtlich lag ich auf einer Holzbank. Verschwommen sah ich das Gesicht des Saaldieners über mir, daneben das eines jungen, pockennarbigen Mannes mit einer schiefen Nase.
    „Du bist vielleicht ein Held“, spottete der Diener und schlug mit der Handfläche ein paar Mal leicht links und rechts gegen meine Backen. Kraftlos richtete ich mich auf.
    Meine Stirn schmerzte, mein Schädel brummte. Wie mit einer fremden Stimme hörte ich mich fragen: „Was … was ist geschehen?“
    „Du bist ohnmächtig geworden und mit dem Kopf auf eine Stufe geschlagen.“
    Jetzt erinnerte ich mich wieder.
    „Der Tote“, stammelte ich, „der unter dem Tuch …“
    Die beiden Männer sahen sich grinsend an und verdrehten die Augen.
    „Dem Alter nach bist du fast schon ein Mann. Aber du hast ein Benehmen wie ein Mädchen“, rügte mich der Diener. „Hast wohl noch nie einen Toten gesehen? Ein Glück nur, dass der Professor nichts von dem Vorfall mitbekommen hat. Er kann wild wie ein Stier werden, wenn er bei einer Vorlesung unterbrochen wird.

Weitere Kostenlose Bücher