Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
darunter. Der eine trug ein langes schwarzes Gewand, sein Gesicht wurde von einer schwarzen Kapuze bedeckt. Der andere, ärmlich gekleidet und an den Händen gefesselt, war etwa so alt wie ich. Er hatte feuerrote Haare und hielt den Kopf gesenkt. Seine magere, gebeugte Gestalt war Mitleid erregend. Da erinnerte ich mich schlagartig, dass ich diesen jungen Mann schon einmal gesehen hatte: am Tag meiner Ankunft vor sechs Monaten, als ich mit meinem Vater auf dem Weg zur Rozengracht war. Er war der Bettler, dem ich ein Stück Brot gegeben hatte.
Mit einem Mal ging ein Raunen durch die Menge, in das sich die durchdringend hohen Schreie einiger Frauen mischten. Die beiden Männer kletterten auf eine Leiter, die neben dem Gerüst lehnte. Dann legte der schwarze Mann dem jungen ein Seil um den Hals. Jubel brandete auf. Der Schwarze stieg wieder hinab und stieß die Leiter mit einem energischen Fußtritt um. Der andere hing plötzlich frei in der Luft, wand sich hin und her wie ein zitternder Aal.
Die Menschen brachen in einen Freudentaumel aus, klatschten und brüllten. Mit einem weiten Satz sprang ich von dem Fass und bahnte mir panisch einen Weg durch die Menge. Das Grölen schwoll an und erfüllte den ganzen Platz. Ich presste die Hände gegen die Ohren und stolperte davon. Wie benommen lief ich durch die fast menschenleeren Straßen, kam in Winkel und Ecken, in denen ich noch nie zuvor gewesen war. Irgendwann stand ich vor dem Haus an der Rozengracht und atmete auf. Doch das Bild des schwarzen Mannes und die gellenden Schreie der Menschen verfolgten mich noch bis in den Schlaf.
Der Türklopfer ertönte, kaum dass wir das Frühstück beendet hatten. Rebekka humpelte zur Tür, und nach einer Weile hörten wir ihre schlurfenden Schritte auf den knarrenden Holzdielen. Wenn sie so eilig daherkam, konnte es sich nur um etwas Wichtiges handeln.
„Mijnheer, ein Brief für Euch. Das Siegel kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube sogar, ich habe es schon einmal gesehen.“
Hastig schluckte der Meister einen letzten Bissen Brot hinunter und wischte die Hände an seinem Wams ab. Dann nahm er das Schreiben, das Rebekka ihm entgegenhielt.
Er öffnete das Siegel. Seine Augen hetzten über die Zeilen, seine Hände flatterten.
„Samuel, meine Skizzenmappe, schnell. Wir müssen sofort aufbrechen. Der Professor hält heute seine Vorlesung.“
Auf dem Weg zur Alten Stadtwaage trafen wir Thomas Block, den jüngsten Assistenten des Professors. Er wohnte am Klovenierswal und ging mit uns zusammen bis zum Gildehaus, wo er uns in das obere Stockwerk führte. Über dem Eingang des Saals, in dem das Ereignis stattfinden sollte, war in goldenen Buchstaben die Inschrift „Theatrum anatomicum“ zu lesen. Zahlreiche Menschen drängten sich vor der Tür, an der zwei Diener das Eintrittsgeld einsammelten. Wüste Beschimpfungen waren zu hören, wenn jemand nicht in der Reihe blieb und sich vorzudrängen versuchte.
Durch eine Seitentür gelangten wir in den Vortragssaal. Eine hohe Kuppel wölbte sich über den kreisrunden Raum. Rings um die Mitte stiegen etwa ein Dutzend Reihen mit Sitzbänken nach oben. Im Saal herrschte eine eisige Kälte. Ärzte und Studenten standen dicht beieinander und diskutierten laut und lebhaft.
Oben auf der Galerie und zwischen den Bänken waren Skelette ausgestellt, darunter auch eins von einem Pferd, auf dem ein Knochenmann ritt. Der Reiter hielt ein Schild mit einer lateinischen Inschrift. Der Meister, der diese Sprache während seiner Schulzeit in Leiden erlernt hatte, übersetzte mir die Worte. „Memento mori - Mensch, gedenke, dass du sterblich bist.“ Ein anderes Gerippe mahnte die Zuschauer „Nosce te ipsum - erkenne dich selbst.“
Irgendwo wurde Weihrauch abgebrannt, dessen Geruch den ganzen Saal erfüllte. Kaufleute, vornehme Bürger und Ratsleute hatten bereits in den unteren Reihen Platz genommen. Das gewöhnliche Publikum saß weiter oben und tuschelte in gespannter Erwartung. Ein paar Musiker spielten auf, Bierverkäufer und Bäckerjungen zwängten sich durch die Reihen und verkauften ihre Waren. Die Stimmung erinnerte mich an die Kirmesfeste, wie wir sie zweimal im Jahr bei uns im Dorf feierten.
Thomas Block wies dem Meister den letzten noch freien Platz am Ende der ersten Reihe zu. Ich stellte mich neben meinen Lehrer auf die unterste Stufe einer Treppe, die zwischen den Bankreihen hoch zur Galerie führte.
Ein Diener trat auf die Galerie und klopfte dreimal mit dem stumpfen Ende
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