Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Schärpe mit Goldstickerei gewickelt.
Nur zu gerne hätte ich in diesem Moment meine Hände um ihre schmale, biegsame Körpermitte gelegt wie damals, am Silvestertag, beim Schlittschuhlaufen auf der Amstel. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn ich eines Tages nicht mehr nur römische Marmorbüsten zeichnen würde, sondern - sie.
Mit jedem Tag, den er auf eine Nachricht des Anatomen warten musste, wurde der Meister unruhiger.
„Bis zur Jubiläumsfeier bleiben nicht einmal mehr als sieben Monate Zeit. Der Professor muss seinen Leichnam sehr bald sezieren, wenn ich den Auftrag rechtzeitig ausführen soll“, schimpfte er eines Morgens. Dabei lief er wie ein eingesperrter Bär in der Stube auf und ab.
„Macht Euch wegen der knappen Zeit keine Sorgen, Meister Rembrandt, ich werde Euch tatkräftig zur Hand gehen“, versuchte ich ihm Mut zuzusprechen.
Der Meister fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare und lächelte gequält.
„Ich weiß, dass du ein verlässlicher Schüler bist, Samuel. Doch das ist in dieser Situation nur ein schwacher Trost.“
Mich beschlich die Angst, dass die Zukunft des Meisters abermals auf dem Spiel stand und ebenso meine weitere Ausbildung bei ihm. An diesem Abend betete ich, dass der Herr uns bald aus dieser Ungewissheit erlösen möge.
Doch nichts geschah. Seine innere Anspannung machte es dem Meister unmöglich, irgendeine Arbeit, die ihn ablenken könnte, fortzuführen oder etwas Neues zu beginnen. Er aß und trank er kaum noch. Manchmal hörten wir ihn auf dem Dachboden brüllen und wüten, als würde er alles in Stücke schlagen. Dann wiederum ging er aus dem Haus, ohne jemandem zu sagen, wohin, und kam erst nach Stunden zurück.
Ich grübelte verzweifelt, was getan werden könnte. Als ich eines morgens durch eine der vielen Mappen mit den eigenhändigen Zeichnungen des Meisters blätterte, hatte ich plötzlich einen Einfall. In den Händen hielt ich ein Blatt, das Hausierer und Landstreicher zeigte. Was wäre, überlegte ich, wenn ein solcher Vagabund die Rolle des Toten im Bild übernehmen würde? Der Meister könnte endlich mit der Arbeit beginnen, der Bettler würde einen Lohn erhalten und könnte zumindest für eine Weile ein besseres Dasein fristen.
Sofort erzählte ich dem Meister von meinem Plan.
„Du hast manchmal die absonderlichsten Ideen, Samuel. Der Professor sprach ausdrücklich von einem echten Leichnam, du hast es doch selbst gehört.“ Er schüttelte den Kopf und wollte sich schon wieder abwenden. Vielleicht war es mein beschwörender Blick, der ihn noch einmal nachdenken ließ.„Obwohl, wenn man es sich recht überlegt … Schließlich richtet sich die Qualität eines Bildes nicht danach, ob der Dargestellte tot oder lebendig ist. Ich will deinen Vorschlag bedenken und eine Nacht darüber schlafen. Vielleicht ist das sogar der einzige Weg, um den Dingen noch eine glückliche Wendung zu geben.“
Am folgenden Tag sprach der Meister bei dem Professor vor. Dieser hörte sich die Worte des Meisters mit unbewegter Miene an. Dann stand er auf, stellte sich breitbeinig in die Mitte seines Studierzimmers und legte die gespreizten Fingerkuppen aneinander.
„Mein lieber Meister Rembrandt, es befremdet mich, dass ein solcher Gedanke ausgerechnet von Euch, einem gebildeten und angesehenen Maler vorgetragen wird. Dabei solltet Ihr eigentlich wissen: Einen Toten nach dem Modell eines Lebenden darzustellen, widerspricht dem Zweck des Gemäldes. Eine Sektion ist eine wissenschaftliche Beweisführung, die ausschließlich auf der Grundlage absoluter Objektivität und Wahrhaftigkeit beruht.“
Mein Meister schwankte zwischen Verärgerung und Mutlosigkeit, wollte aber noch nicht aufgeben.
„Ich würde mich gerne nach Euren Forderungen richten, Professor van Campen. Doch Ihr wisst selbst, dass es in den letzten Monaten keine einzige Hinrichtung in Amsterdam gegeben hat. Der Winter ist fast vorbei, was, wenn sich auch in nächster Zeit kein geeigneter Leichnam einfindet und Ihr Eure Vorlesung überhaupt nicht halten könnt?“
„Habt Vertrauen, werter Meister. Schon bald werdet Ihr eine Nachricht von mir erhalten. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.“
Zwischenruf des Verfassers
Das Tintenfass ist leer, alle Seiten sind voll, meine Hand schmerzt und meine Augen brennen. Eine ganze Woche lang habe ich jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geschrieben. Ich habe meine Kammer unter dem Dach kaum verlassen. Bei manchen Sätzen spürte ich die
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