Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
vor, es gäbe überhaupt keine Verbrechen mehr. Woher sollte ich dann die Leichen für meine Forschungen nehmen?“
Der Meister hielt inne und hob verwirrt den Kopf. „Bitte entschuldigt, Professor, aber ich verstehe nicht, wovon Ihr redet.“
„Zerbrecht Euch deswegen nicht den Kopf, Meister Rembrandt. Bitter genug, dass ich mich wegen meiner Vorlesung so lange im Zustand der Unsicherheit befunden habe. Doch zum Glück hat sich alles so gefügt, dass rechtzeitig ein Leichnam eintraf und Ihr mit meinem Bildnis beginnen konntet. Ich werde es an meinem Festtag eigenhändig vor den Augen der Öffentlichkeit enthüllen.“
Wie immer klang es klug und vernünftig, was der Professor sagte. Trotzdem beschlich mich ein eigenartiges Gefühl des Unbehagens. Auch der Meister schien nachdenklich, über seiner Nase sah ich eine steile Falte.
„Erlaubt mir eine Frage, die ich mir schon öfter gestellt habe. Was hat eigentlich dieser Mann, dessen Leichnam Ihr während Eurer Vorlesung seziert habt, getan? Was war sein Verschulden?“
Der Professor stand auf, nahm die Schultern zurück und hob das Kinn. Er wirkte gleichzeitig anklagend und trotzig.
„Dieser Mensch war ein Verbrecher. Er hat hinterhältig und feige einem ehrlichen Bäcker drei Laibe Brot gestohlen.“
Im Atelier war es so still, dass ich meinte, mein Herz schlagen zu hören. Dann machte der Meister eine Kopfbewegung, als wolle er etwas, das ihm lästig war, abschütteln.
„Was sagtet Ihr soeben, was hat er getan?“
„Er hat drei Laibe Brot gestohlen. Und er hat sein Vergehen gesühnt.“
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Auf meiner Stirn fühlte ich Schweiß, meine Hand, die eine Flasche mit Leinöl hielt, zitterte. Ich hatte also doch richtig gehört.
„Das kann ich nicht glauben“, sagte der Meister und gab sich keinerlei Mühe, sein Entsetzen zu unterdrücken. „Dann ist dieser Mensch also dafür hingerichtet worden, dass er Hunger hatte? Nur, weil Ihr eine Leiche für Eure Vorlesung brauchtet? Und ich habe eine solche Schmach auch noch im Bild verewigt.“
„Aber verehrter Meister Rembrandt, Ihr solltet vielmehr daran denken, dass dieser Mensch große Schuld auf sich geladen hat. Seine Sünde hat ihn in den Tod getrieben. Dessen ungeachtet gab ich ihm die Möglichkeit, seine Schuld gegenüber der Gesellschaft zurückzahlen, indem ich seine sterbliche Hülle zum Zwecke der Forschung verwendete. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass man mit allen Verbrechern auf dieselbe Weise verfahren sollte. In meiner Forderung weiß ich mich von der Polizeibehörde voll unterstützt.“
Ich war fassungslos. Wie konnte ein Mann wie der Medicus, gebildet und von vornehmer Herkunft, ein liebevoller Vater und als Forscher mit allen europäischen Größen auf seinem Fachgebiet in Kontakt, wie konnte so ein Mensch dermaßen unmenschlich sein? Gott der Herr wäre gütiger gewesen, er hätte dem Sünder vergeben, der nur aus Hunger zum Dieb geworden war.
Wie betäubt legte der Meister Pinsel und Palette zur Seite und sackte kraftlos auf den frei gewordenen Stuhl. Sein Atem ging schnell, seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen.
„Ich frage Euch, Professor van Campen, wo bleibt Eure Verantwortung als Wissenschaftler? Wo Eure christliche Achtung vor der Würde des Menschen?“
Der Medicus lachte nur kurz auf, es war ein verächtliches, hämisches Lachen.
„Für mich zählen allein die Freiheit und die Würde der Wissenschaft, auch wenn diese gelegentlich Opfer fordert. Vergesst nicht, dass diesem Sünder auf meinem Bildnis Unsterblichkeit zuteil wird.“
Ganz still verharrte ich in meiner Ecke hinter dem Reibeblock und wagte kaum zu atmen. Der Meister presste die Lippen zusammen und starrte den Medicus aus weiten Augen an. Er lehnte sich in den Stuhl zurück, erschöpft, wie nach einer übermenschlichen Anstrengung.
Das Geräusch von klirrendem Glas ließ uns zusammenzucken. Ein Fenster war zerborsten, Glassplitter und ein dicker Stein lagen auf den Holzdielen des Ateliers. Mit großer Anstrengung stemmte der Meister sich hoch und ging schwankend zum Fenster. Kindergeschrei ertönte, das aber augenblicklich verstummte, als er sich aus dem Fenster lehnte. Dann war nur noch das Klappern von Holzschuhen auf dem Gehweg zu hören, das sich entfernte und immer leiser wurde. Müde hob der Meister die Hand und ließ sie wieder sinken.
„Unerhört!“ Der Professor war neben den Meister getreten und spähte nach unten auf die Straße.
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