Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
„Vielleicht galt dieser Anschlag in Wirklichkeit mir? Irgendjemand, der mir meine neue Position neidet, hat vielleicht gesehen, wie ich Euer Haus betreten habe und wollte mir Schaden zufügen. Ich werde veranlassen, dass bedeutende Personen künftig nicht mehr ohne Schutzleute in die Öffentlichkeit gehen. Stellt Euch nur vor, was meinem Schwager gestern passiert ist. Ihm wurde der Geldbeutel gestohlen. Mitten auf der Straße, am helllichten Tag. Wenn wir diesen dreisten Dieb zu fassen kriegen …“
Mir war, als würden die Wände des Ateliers auf mich zustürzen. Ich beugte mich über den Reibeblock und hielt mich wie ein Ertrinkender mit klammen Händen daran fest. Mein Mund war wie ausgetrocknet, meine Zunge klebte am Gaumen. Ich betete, dass ich jetzt nicht das Bewusstsein verlieren und dadurch die Aufmerksamkeit des Medicus auf mich lenken würde.
Alle Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, währten wohl nicht länger als eine Sekunde. Noch einmal sah ich die Geschehnisse des gestrigen Tages an mir vorüberziehen. Ich versuchte, Klarheit in das Wirrwarr in meinem Kopf zu bekommen und kam zu folgenden Ergebnissen:
Erstens: Der Mann, der gestern sein Geld auf der Straße verloren hatte, war der Polizeihauptmann Albert Rip, der Schwager des Professors. Die verschlungenen Buchstaben A und R auf dem Lederbeutel stellten seine Initialen dar.
Zweitens: Der Polizeihauptmann würde niemals glauben, dass ich mir den Beutel nur deswegen angeschaut hatte, weil das Leder so wunderbar verarbeitet war. Er hatte mich einen Dieb geschimpft, und er würde mich jagen.
Drittens: Bisher hatte der Polizeihauptmann jede Straftat erbarmungslos verfolgt; ein Mensch war wegen drei Laiben Brot hingerichtet wurde. Wodurch dem ungeduldig wartenden Professor eine Leiche als Bildvorlage zur Verfügung stand.
Viertens: Der Professor hatte in seinem Schwager einen Verbündeten. Sobald der Polizeihauptmann mich des Diebstahls überführt hätte, würde ich auf dem Seziertisch des Medicus liegen. Er würde in mein totes Fleisch schneiden und triumphierend einem gaffenden Publikum meine Sehnen präsentieren.
Ein leises Fiepen schreckte mich auf. Dicht an meinen Füßen vorbei huschte Paulintje, die sich unbemerkt ins Atelier geschlichen hatte. Sie jagte eine Maus vor sich her, die sie nach einem weiten Satz zwischen ihren Krallen hielt. Ich war starr vor Schreck. Vielleicht sollte das ein Zeichen sein, und das Schicksal der Maus war nunmehr auch das meine.
Der Kehle des Meisters entfuhr ein Laut, der mich eher an ein leidendes Tier als an einen Menschen erinnerte.
„Samuel, ich bin erschöpft. Ich brauche dringend Ruhe. Begleite den Professor hinaus.“
Der Medicus, der offenbar nicht begriff, dass den Meister etwas quälte, beschloss nun eilig seinen Abgang.
„Ihr entschuldigt mich bitte, verehrter Meister Rembrandt, aber ich habe heute noch einige wichtige Termine. Deswegen muss ich mich jetzt leider von Euch verabschieden. Ich hoffe, Ihr werdet meine Anweisungen rasch in die Tat umsetzen. Doch lasst es mich wissen, wenn Ihr weitere Ratschläge benötigt.“
Weil der Meister nicht antwortete, sondern nur schwach die Hand hob, beeilte sich der Medicus hinzuzufügen: „Ich vertraue auf Euch. Wenn das Bildnis rechtzeitig fertig wird und ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, werde ich das Honorar verdoppeln.“
Der Professor lüftete den Hut und wandte sich zum Gehen. Ich lief vor ihm die Treppe hinunter in die Diele und hielt ihm weit die Haustür auf. Der Medicus ging an mir vorbei, den Blick starr nach vorne gerichtet. Für einen kurzen Moment blieb er in der Tür stehen, rückte seinen Hut gerade und zischelte etwas, das sich anhörte wie: „Kein Verbrecher in dieser Stadt wird seiner gerechten Strafe entgehen.“
Als ich ins Atelier zurückkam, saß der Meister noch immer reglos in seinem Stuhl. Sein Gesicht war aschfahl, die sonst vollen Züge wirkten eingefallen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und berührte seinen Arm.
„Was habt Ihr, Meister Rembrandt, fühlt Ihr Euch nicht wohl? Soll ich Rebekka rufen?“
Kaum merklich schüttelte er den Kopf und umklammerte mit beiden Händen so fest die Stuhllehne, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Es ist nur … ich bin entsetzlich müde.“
Ich machte einen Schritt zurück und strich nervös mein Wams glatt, obwohl es untadelig saß. Nach einigem Zögern atmete ich tief durch und erzählte dem Meister, was ich ihm vielleicht schon gestern hätte
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