RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
wissen. Keiner kann mit Gewi ss heit sagen, ob Bleiben oder Gehen sicherer ist. [30]
Der Morgentee kommt. Ich halte meine Tasse hin und fühle, wie der Servierer mir einen Zettel in die Hand schiebt.
„J ękuje, danke für meinen Tee“, sage ich auf Polnisch.
„Gern geschehen.“ Er hat freundliche Augen. Wie kommen diese Männer in der Küche dazu, ihr Leben zu riskieren, um uns Botschaften zu überbringen? Manchmal erfa ss t mich gro ss e Ehrfurcht vor ihrer Tapferke it. Sie kennen mich nicht, sie sind nicht blutsverwandt, aber sie würden eher sterben, als meine Nummer verraten.
Ich verschwinde rasch, um den Brief von Marek zu lesen. Darauf steht: „Für wie viele Mädchen möchtest du Vorräte?“ Ich zeige Danka die Nachricht. „Wie vielen sollten wir zu helfen versuchen?»
„Wir müssen Dina helfen.“
„Ja, das ist selbstverständlich. Aber wem sonst noch?“
„Janka ... Mania und Lentzi.“ Ich nicke. Wir können nicht allen helfen, aber ein paar Mädchen können wir helfen, und das sind unsere Freundinnen, die uns auch geholfen haben.
„Kleidung und Essen für sechs“, schreibe ich an Marek. „ Dan keschön.“ Die Männer mit dem Kessel wollen aufbrechen. Ich stecke dem mit den freundlichen Augen die Nachricht zu und entferne mich.
Der Tag vergeht langsam. Das Wetter verschlechtert sich. Überall hängen Wolken, und es sieht aus, als bekämen wir morgen einen Schneesturm. Wir hängen die Boxershorts und die langen SS-Unterhosen drinnen auf die Leine. Auf einmal kommen uns die Tage, an denen wir in Schnee und Regen die Wäsche bewachten, lächerlich vor. Wenigstens ist es warm in der Lederfabrik, und die Wäsche trocknet schnell. Die Suppe kommt mittags. Ich erhalte eine weitere Nachricht: „Pa ss t mor gen auf den Tee auf. Vergi ss nicht - Amerika.“ Ich gehe wie üb lich auf die Toilette und spüle die Nachricht hinunter. Wir le gen die getrocknete Unterwäsche in unsere Körbe und lassen das, was noch nicht trocken ist, bis zum nächsten Tag hängen - wenn es einen nächsten Tag gibt.
Der Morgen kommt. Heute müssen wir nicht arbeiten. Ich ho le meinen Tee und meine Anweisungen: „Im Keller steht ein Kessel. Hol alles raus und geh dann.“ Ich nicke Mania zu, sie ist die Grö ss te und Stärkste von uns. Danka wei ss , da ss sie in ein paar Minuten mit Dina nachkommen soll; dann werden Janka und Lentzi sich hinunterschleichen. Wir müssen das Essen und die Kleider schnell verst ecken, ohne da ss es jemand mitbe kommt. Wir finden für jede von uns einen Laib Brot sowie vier Tüten Zucker, sechs Hosen, Schuhe, Socken und Pullover. Ich verteile sie. Mania hilft mi r. Wir verstauen die Kleider un ter unseren Matratzen, verstecken sie für später.
„Du bist robuster - du hast als Sekretärin drinnen gearbei tet - kannst du zwei Tüten Zucker tragen?“, frage ich Mania.
„Gewi ss .“ Sie nimmt die Tüten unter ihre Arme. Ein kleines, in einen Fetzen gewickeltes Päckchen trägt die Aufschrift „Rena“. Aufgeregt mache ich es auf - es ist eine Uhr aus Chrom. Marek wei ss , wie wählerisch ich bin. Ich lächle in mich hinein, mache das Band an meinem Handgelenk fest und denke an die letzte Uhr, die ich trug. Ich streife den Ärmel übers Gelenk und gehe wieder nach oben.
Die SS hat eine Menge vor. Sie versucht, die Berichte zu ver nichten, die mit dem Lager zu tun haben. Haufenweise bren nendes Papier, das mich an die entsetzliche Nacht vor sechs Jahren erinnert, als die Nazis vor dem Tempel unsere heiligen Bücher angezündet haben und Papas Bart und Ohrlocken ab rasierten. Die Flammen sind nichts Neues mehr, sie sind alt und lächeln uns, die wir das Böse ungehindert haben heran wachsen sehen, niederträchtig an. Keiner wird glauben, was das Böse hinter seinen Mauern herangezüchtet hat, es ist wie bei Mengeles schöner Larve. Sie zerstören die Beweise, es wird also keine Belege, keine Aufzeichnungen, nichts au ss er unseren Erinnerungen geben, falls wir Überleben, und sie werden ver suchen, auch diese zu vernichten. Ich schaue aus dem Fenster unseres Blocks: Überall im Gelände steigen über den SS-Büros graue Rauchwolken und schwarze Asche auf. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Schreckenszeit riecht die Luft mehr nach brennendem Papier als nach verbranntem Fleisch.
Wir warten den ganzen Tag, ziehen unsere neuen Kleider an, wechseln die Schuhe, um bereit zu sein. Das ist fast so schlimm wie die Zeit in der Quarantäne. Wir haben keine Ah nung, was sie mit uns
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