RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Gespräch vor, als fände es vor meinen Augen statt.
„Ich wollte jemand anderen anrufen, und hatte stattdessen sie dran. Wir fanden das beide furchtbar lustig, denn sie war einige Wochen weggewesen. ‚Wie geht’s dir denn?‘, sage ich. ‚Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.‘ ‚Ich habe eine schwere Zeit durchgemacht‘, erzählt sie mir.
Sie sagte in etwa, dass ihre Vergangenheit sehr schmerzhaft gewesen sei, und ehe ich mich versag, sage ich: ‚Das kenne ich. Auch ich habe schlimme Dinge durchmachen müssen. Ich war in Auschwitz.‘ Ich erzählte ihr, dass ich seit fünfzig Jahren meine Geschichte im Kopf schreibe, sie aber nicht aufs Papier bringe. ‚Ich brauche jemanden mit freundlichen Augen, der mir gegenüber sitzt, sich alles anhört und für mich niederschreibt.‘ Sie sagt: ‚Ich kenne dafür genau die richtige Frau. ‘“
Und hier sind Sie! Alles nur wegen einer falschen Nummer.“ Sie tätschelt mein Knie. „Habe ich Ihnen gesagt, was mir durch den Kopf ging, als wir zum ersten Mal miteinander telefonierten?“ Ich schüttle den Kopf. „Dass Sie Piroggen essen, war ein Zeichen, dass Sie der richtige Mensch für meine Geschichte sind.“ Sie lacht, und ich falle mit ein.
Wir lassen uns auf der Couch vor dem Ofen nieder. Geräuschlos schalte ich mein Tonbandgerät ein; Zeit, anzufangen.
„Ich habe jede Menge Bücher über den Holocaust.“ Sie springt auf. „Wollen Sie sie sehen?“
„Nicht jetzt. Erzählen Sie erst einmal.“
„Okay.“ Sie wirft mir einen misstrauischen, resignierten Blick zu, ehe sie sich hinsetzt.
Ich komme mir vor wie ein Zahnarzt, der eine Extraktion vornehmen soll.
„Wo soll ich anfangen?“
„Mit Auschwitz?“, frage ich.
Sie ist enttäuscht. „Wollen Sie nicht lieber zuerst etwas über meine Kindheit erfahren? Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Ich könnte Ihnen von meiner Schwester Danka erzählen, und von Mama und Papa.“ Sie sieht mich hoffnungsvoll an, und da mir mein Fehler klargeworden ist, nicke ich bereitwillig.
Genussvoll taucht sie in ihre Familiengeschichte ein, vergewissert sich, dass ich den Lebensstil der orthodoxen Juden nachvollziehen kann, und skizziert die Kräfte, die in der Familie zum Tragen kamen. Sie spricht schnell, angeregt und lebendig, ihre Hände ges tikulieren, ihre Augen lächeln.
Mama
De Kornreich Familie (Danka, Mama,
Zosia, Papa, Rena)
TYLICZ
Für Renas Vater Chaim bestand die Aufgabe der Frau darin, Kinder zu gebären, einen koscheren Haushalt zu führen und zu wissen, wie man betet. Doch Renas Mutter war entschlossen, dass ihre Mädchen Hebräisch lernen sollten. „Ich werde nicht zulassen, dass meine Mädchen, wenn sie im Tempel verheiratet werden, so in Verlegenheit kommen wie ich, weil sie nicht im Gebetbuch lesen können.“ Sie machte einen derartigen Wirbel, dass die Synagogenältesten, um sie zu besänftigen, beschlossen, in diesem einen Fall Sara Kornreichs Tochter nach ihrem normalen Schultag zum Besuch des Cheder, der hebräischen Schule für die Jungen, zuzulassen. Ihre Mutter zahlte den Melamed, den Lehrer, mit Eiern, Butter und Milch, sodass Rena auf der einen Seite des Zimmers sitzen (die Jungs sassen auf der anderen Seite) und Hebräisch lernen konnte. Nach dem Unterricht nahm Rena die Lektionen mit nach Hause, um sie Danka beizubringen.
~ ~ ~
„Was mache ich nur?“, ruft Rena. „Ich fange ja mittendrin an, ohnen einen Anfang!“ Wir versuchen es noch einmal.
~ ~ ~
Rena wurde 1920 in Tylicz, Polen, geboren, als Sara Ende Dreissig und Chaum Ende Vierzig war. Die Familie teilte sich in die beiden kinder auf, die sie in ihrer Jugend bekommen hatten, und die beiden Nachzügler. Gertrude, die Älteste, war sechzehn Jahre älter als Rena. Dann kam Zosia, die zwei Jahre jünger als Gertrude war. Danka, die Jüngste, kam zur Welt, als Rena gerade zwei war.
Ich weiss noch, wie ich mit Mama in Dankas Wiege sah. Sie war so zerbrechlich, so klein. Als sie erst ein paar Monate alt war, bekam sie Kehlkopfdiphterie. Es war schrecklich. Sie hustete und hustete den ganzen Tag und die ganze Nacht, dann hörte das Husten auf. Die Stille war fürchterlich.
Mama fing an zu jammern. Nie hatte ich sie so ausser sich gesehen. Schwerfällig zieht sie über Dankas Kopf ein weisses Tuch und die Babydecke.
Die Stille in unserem Haus war so traurig. Ich war erst drei Jahre alt, aber ich erinnere mich, dass ich Mamas Tränen wegwischen wollte, und
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