RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Vorhaben, doch es wird etwas Neues sein. Trotz all unserer Befürchtungen werden wir Auschwitz- Birkenau verlassen. Eine Art Vorfreude auf das Unbekannte erfa ss t uns, aber noch immer lastet die Furcht auf uns. Wir wissen nicht wann, aber wir wissen, da ss sie bald kommen werden und sagen: Losmarschieren! Wir sind zu angespannt, um schlafen zu können. Wir warten den ganzen Tag. Wir ver suchen uns auszuruhen, ich mache mir achtmal die Fingernä gel sauber.
„Wie spät ist es, Rena?“, fragt Danka von unserem Bett aus.
„Zwei Uhr.“
„Wo bleibt die Suppe? Sie sind spät dran.“
„Sie werden uns heute nichts zu essen geben“, meldet sich eine Stimme aus dem Bett über uns.
„Warum nicht?“
„Sie sparen das Essen für sich selbst auf.“ Wir sind nur ein Schutzschild gegen die Russen und austauschbar. Sie werden nicht ihr kostbares Essen an uns verschwenden. Wir warten. Wir ruhen. Drau ss en wird es dunkel. Keiner bringt uns das Abendbrot. Unsere Blockälteste ist aufgebracht; sie wird zu sammen mit uns losmarschieren müssen. Danka döst. Meine Augen werden schwer, dann rei ss e ich sie auf: Ich habe Angst, etwas zu verpassen. Die Lichter in unserem Block sind noch an. Drau ss en ist Gestampfe zu hören.
„Raus! Raus!“
Wir stellen uns vor dem Block auf, wie wir es immer getan haben. Die SS zählt uns und erteilt die Befehle.
„Losmarschieren!“
Ich schaue auf meine Uhr. Es ist genau ein Uhr morgens. Es ist der 18. Januar 1945. Wir treten vor die Tore.
Tausende von Menschen sind vor uns. Feuerstellen sprenkeln das Gelände. In ordentlichen Fünferreihen - diszipliniert bis zuletzt - stapfen wir durch den gut zusammengedrückten Schnee und lassen den eisernen Fluch ARBEIT MACHT FREI hinter uns zurück: Diese Worte sind uns in die Seele gebrannt. Es schneit. Der Schneesturm ist gekommen. Werden wir dem Leben zugeführt oder dem Tod?
Wir sind die einzigen Frauen auf der Stra ss e, aber Männerleichen liegen auf unserem Weg verstreut. Stapfen und stapfen, unsere Beine tun uns weh v or Erschöpfung, bewegen sich je doch mechanisch vorwärts. Immer wieder steigen wir über Leichen, auf denen bereits Schnee liegt, so marschieren wir ei ne, vielleicht auch zwei Stunden, ehe wir in eine Scheune ge pfercht werden. Sind die Russen in der Nähe? Ist hier die Frei heit? Für eine kurze Ruhepause lassen wir uns ins Stroh fallen. Der Schlaf ist dunkel, traumlos.
„Raus! Raus!“ Steif erheben wir uns. Ein paar wachen nicht auf. Sie werden geprüge lt, dann erschossen. Die Schnee wehen sind knietief, und der Wind verstärkt sich; doch wir dürfen den Pfad nicht verlassen, wie die Männer vor uns. Die Sonne geht hinter einem bedeckten Himmel auf. Es ist ein grauer Tag. Unser Fleisch ist grau. Stapfen, stapfen; wir steigen über drei, vier Körper gleichzeitig. Schüsse von vorne und von hinten, von vorne und von hinten. Wir sind so benommen, da ss wir die Kugeln schon in unseren Köpfen spüren. Unauf hörlich schneit es. Das Schneetreiben hört nicht auf und lä ss t nicht nach. Ich habe Blasen an meinen Fü ss en, die noch hefti ger schmerzen würden, wenn meine Fü ss e nicht so kalt wären. Wenn wir anhalten, um auszuruhen, gibt es nichts zu essen. Wir teilen uns das Essen, das wir mitgenommen haben, es schwindet schnell dahin. Unser Brot wird schon morgen aufgegessen sein, und der Zucker allein ist zu wenig. Wir essen Schnee.
„Soll ich dir nicht eine Tüte Zucker abnehmen, Mania? Dann mu ss t du nicht so viel schleppen.“
„Ich habe nur noch eine.“
„Wie kann das alles weg sein?“
„Wir haben ihn gegessen.“ Sie trotzt meiner Frage, ich glau be ihr nicht, aber ich bin zu schwach, mich zu streiten. Wenn wir wegen ihres Egoismus verhungern, mu ss sie das auf sich nehmen.
Wir stapfen durch wei ss en und roten Schnee. Wir kriechen über Leichen. Wir halten an. In einer Scheune teilen wir sechs uns das letzte Stück Brot und den Rest Zucker, ich bin so müde. Ich habe das Gefühl, als wäre morgen für mich alles zu Ende. Ich frage mich, warum ich nicht einfach aufgeben soll. Es ist fast, als hörte ich Stimmen in meinem Kopf, als ich mich gegen die dünne Scheunenwan d lehne. Ich höre auf zu sinnie ren und lausche dem vertrauten Klang. Dann höre ich es - eine Familie unterhält sich auf Polnisch in dem Bauernhaus, das zur Scheune gehört. Ihre Tür ist nur angelehnt. Die Stimmen zerren an mir; ziehen mich zu ihnen. Ich mu ss diese Menschen sehen, die vor diesem Krieg meine Landsleute
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