RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
sie ihr zu springen, manchmal stossen sie sie in die Grube. Und immer stehe ich da und sehe zu.
„Danka!“ , schreie ich, renne an ihnen vorbei und packe ihre Hand, ehe sie in die Tiefe stürzt. Ich stehe am Rand eines Abgrunds, und ihr Schicksal hängt vollkommen von der Kraft ab, die ich noch habe. Ich starre in die Leere unter uns, die zu graben sie uns gezwungen haben. Wie konnten wir je ein so tiefes Loch graben, dass kein Grund mehr zu sehen ist?
„Rena, hil f mir.“ Das Klopfen unserer Herzen dämpft ihre Stimme. „Bitte, lass mich nicht allein.“
„Das tue ich nicht“, versichere ich ihr. Meine Muskeln zittern. Jedes Zucken, jeder Krampf ist eine Bedrohung meines Versprechens. Mein Körper spannt sich an. Dies ist kein Traum. „Gib nicht auf, Danka.“ Zitternd graben sich meine Nägel in ihr Fleisch, entschlossen mich ans Leben zu klammern.
Andrzej taucht aus dem Hintergrund auf. Er nimmt unsere Hände mit festem Griff und hebt Danka mühelos aus der Grube. Vor lauter Erleichterung, ihn zu sehen, bin ich sprachlos. Er lächelt mich an und verschwindet vor meinen Augen. „Andrzej!“, rufe ich seinen Namen. Es kommt keine Antwort. Er ist weg.
„Wenn du vor mir stirbst“ - höre ich Dankas Stimme, „wird keiner mehr weinen als ich. Und wenn ich vor dir sterbe, weiss ich, dass, selbst wenn keiner mehr auf der Welt ist, um mich zu betrauern, du über meinem Grab weinen wirst.“
Keuchend wie ein wildes, von Jägern eingefangenes Tier, erwache ich. Wie erstarrt von den tiefsten Ängsten der Nacht, nicht wissend, wo ich bin oder wer ich bin, kämpfe ich mit den Laken, in denen sich meine Arme und Beine verheddert haben. Ich suche auf dem Nachttisch nach einer Kerze zum Anzünden, aber der Raum bleibt dunkel. Mein Name ist aus meinem Bewusstsein getilgt. Wieder bin ich eine Nummer.
~ ~ ~
Rena zeigt mir später die Narbe auf ihrem Unterarm, wo einst die Nummer war; ein kleiner Punkt aus graublauer Tinte ist noch immer in ihrer Haut eingebettet. „Das war der untere Teil der Eins“, erklärt sie mir.
Es ist die Farbe von verblasstem Schwarz.
SLOWAKEI
Nur eine Familie in Tylicz besass ein Radio. Am Nachmittag machten sie das Fenster auf, und alle versammelten sich davor im Freien, um sich die Nachrichten aus der Welt anzuhören und den merkwürdigen, inbrünstigen Reden Adolf Hitlers zu lauschen, die voller Drohungen gegen Polen, Juden und alle anderen Nicht-Arier waren. Die Kornreichs waren sehr betroffen, als die Slowakei 1938 plötzlich von Deutschland annektiert wurde, denn Sara Kornreichs Bruder, Jakob Schützer, und Chaims Bruder Herschel wohnten beide gleich hinter der Grenze in Bardejov. Aber die Qual, die Rena wegen Andrzejs heimlichen Antrags empfand, liess ihr den Rest der Welt weniger bedeutsam erscheinen.
Deutschland und Russland schlossen einen Pakt; beklommen lauschten die Kornreichs den Nachrichten, und Polen selbst zitterte vor Angst . Während Europa den Atem anhielt, um zu sehen, ob die Beschwichtigungspolitik funktionierte, rief Polen seine jungen Männer auf, sich der Armee anzuschliessen und ihr Land zu verteidigen. Zu oft war es schon geteilt worden, um die Drohungen Stalins und Hitlers nicht ernst zu nehmen.
Am 1. September 1939 fiel Deutschland in Polen ein. „Und von da an gab es keine Unschuld mehr in unserem Lebe“, sagt Rena zu mir. Eingelullt im Glauben, dass die Welt ihnen helfen würde, wurde Polen geplündert. Aus dem kleinen verschlafenen Tylicz wurde sofort ein strategisch wichtiger Posten mitten im besetzten Polen; überall stiess man auch deutsche Wachposten, Wachhunde und Waffen, und die Nürnberger Gesetze traten in Kraft. Ein Mann namens Joseph von der Synagoge wurde zum Obersten einer neuen Organisation ernannt, dem Judenrat, und hatte den Befehl, die Namen sämtlicher Jude n mitzuteilen, in Tylicz lebten. Schon eine Woche nach der Invasion der Nazis waren die Juden gezwungen, ständig Armbinden zu tragen, auf denen der Davidstern in Blau aufgestickt war. Es war ihnen nicht mehr erlaubt, bei Nicht-Juden einzukaufen, Nicht-Juden für sie arbeiten zu lassen oder die polnische Grenze zu überqueren (noch durften sie an d Nicht-Juden Ware verkaufen). Es wurde verkündet, dass jeder Jude oder Nicht-Jude, der dem deutschen Gesetz nicht gehorchte, als Verräter angesehen und zum Tode verurteilt werden würde.
Danka und Rena wurden zusammen mit anderen jüdischen Männern und Frauen dazu bestimmt, die Quartiere der Armee sauber zu halten,
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