RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Schädel, sorgfältig darauf bedacht, dass ich nicht die zarte Haut mit den scharfen Scherspitzen erwischte. Mama schloss dabei die Augen als meditierte sie, und ich nutzte den Augenblick, die Gelassenheit auf ihrem Gesicht zu studieren. Dann polierte ich ihren Schädel, als wäre er aus Porzellan. Er war so klein und glänzend, weich wie ein Baby. Wenn ich fertig war, hielt sie ihre Augen noch ein paar Sekunden geschlossen, dann rief sie Papa, dass ich auch ihm den Kopf rasieren konnte. Während sie den Platz tauschten, verbanden sich ihre Blicke für einen Moment, und Mama lächelte liebevoll.
In meinen Träumen war der Tag, an dem mein Kopf rasiert werden würde, ein Ritual zu einem neuen Lebensabschnitt, vor dem wir uns fürchteten, den wir aber auch herbeisehnten. Doch wie Zosia hatte ich Angst, hässlich zu sein. Sein Haar zu verlieren war nicht gerade schön, aber zu heiraten, das war’s, wonach wir uns sehnten – verheiratet zu sein wie Mama und Papa.
Jedes Mal, wenn Papa an Mama vorbeiging, streckte er die Hand aus und berührte sie. So war das zwischen ihnen – schweigende Begrüssungen und ein zärtliches Willkommenheissen, eine Hand, die sie sachte zwischen den Schulterblättern berührt.
~ ~ ~
Als die Sonne ihre Mittagsstellung bezieht, ist es hell im Zimmer. In der Hoffnung, dass Rena es nicht mitbekommt, werfe ich einen raschen Blick auf die Uhr. Wir arbeiten noch nicht einmal eine Stunde.
„Verwirre ich Sie?“, will sie wissen. „Ich glaube nicht, dass ich das hier richtig mache. Ich hätte alles für Sie aufschreiben sollen, damit es klar ist, Ich springe so viel herum – und ich denke immer, Sie wissen alles schon, aber das können Sie ja gar nicht.“
„Sie machen das sehr gut, Rena.“, versichere ich ihr, während ich meine Notizen nach Namen überfliege, die ich während ihrer Ausführungen notiert habe. Da ist ein Name, der sich abhebt, doch ich bin mir nicht sicher, warum. Vielleicht lag es an ihrem Blick, der sich im Raum verlor und bei mir ein Kribbeln hervorrief. Ich habe einen Stern neben seinen Namen gekritzelt. „Erzählen Sie mir was von Andrzej. Wer war er?“
„Andrzej Garbera war der erste Junge, den ich je… Ich habe in einem meiner Bücher ein Bild von ihm. Wollen Sie es sehen?“ Sie stürzt zu ihrem Archiv und kehrt mit einem Arm voller Bücher und Notizbücher zurück. „Seit Jahren schreibe ich alles auf. Jedes Mal, wenn mir ein Datum oder ein Name einfällt, schreibe ich es auf. Es ist polnisch geschrieben, aber vielleicht hilft es uns bei der Arbeit.“
Ich lasse meine Augen über ihre Notizen und die Titel der Bücher wandern, die sie vor mir auf den Tisch gestellt hat: die Enzyklopädie des Holocaust, die Judenvertreibung, Anus Mundi. Ich muss jede Menge Nachforschungen anstellen und weiss, dass ich im Laufe dieses Projekts diese und viele andere Bücher lesen werde, aber nicht heute.
„Jetzt habe ich alles durcheinander gebracht.“ Sie fängt an, die Bücher der Grösse nach zu ordnen, während ich eins öffne und eine Fotografie von Menschen auf einer Waldlichtung betrachte. Ein kleines Mädchen, das ihre winzigen Hände vor ihrer Brust zusammenpresst, starrt in die Kamera. Ich versuche die Bildunterschrift zu lesen, aber sie verschwimmt mir vor den Augen – ich weiss, was sie besagt: Das Kind ist tot, alle Menschen auf dieser Lichtung sind tot. Ich bin ganz niedergeschlagen.
„Das hier ist Andrzej…“ Sie zeigt mir seine Fotografie in einem Buch mit polnischen Helden des Zweiten Weltkriegs. „Sie wird ihm nicht gerecht.“ Sie seufzt.
„Der Marktplatz in Tylicz war das Zentrum unserer Welt, und alles andere war nebensächlich, erzählt mir Rena.
Der koschere Metzger und der nichtjüdische Metzger befanden sich auf der Hauptstrasse, genauso der Käseladen und das Rathaus. Hier wohnte die Fam ilie Garbera, direkt neben Renas guten Freundinnen Erna und Fela Drenger. Danka und Rena verbrachten viele Abende bei Erna und Fela. Auch Dina, deren Cousine, war dort. Sie sassen im Wohnzimmer, spielten Domino oder „Erwachsensein“ und vertrauten einander ihre Träume an.
Eines kalten Winterabends, als Danka und Rena nach draussen gingen, um sich auf den Heimweg zu machen, begrüsste Andrzej sie. „Ich habe auf euch gewartet, um euch beide nach Hause zu bringen. Der Berg ist sehr vereist, und ich möchte nicht, dass ihr fallt und euch verletzt.“
Nach diesem Abend wurde es Andrzej zur Gewohnheit, vor Ernas und Felas Haus zu warten
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