Renate Hoffmann
können. Es war ja nicht so, dass jemand sie unfreundlich behandelte. Das tat niemand. Aber es gab eben auch niemanden, der sie bemerkte oder vermisste, geschweige denn mit ihr sprach. Normalerweise störte sie sich nicht an dieser Tatsache, oder sie gestand es sich nicht ein. Doch an jenem Tag hätte sie gerne jemandem von dieser schrecklichen Stunde im U-Bahn-Tunnel erzählt.
Neun Stunden später schaltete sie den Computer und die Schreibtischlampe aus, schlüpfte in ihren grauen Mantel und verließ ihr Büro. Viele ihrer Kollegen waren schon längst weg. Zu Hause bei ihren Familien. Oder ihren Partnern. Oder vielleicht auch nur bei ihren Hunden und Katzen. Frau Hoffmann hatte keine Haustiere, weil sie es als unfair empfand ein Tier zu halten, das den ganzen Tag alleine in einer Wohnung eingesperrt war. Dazu kam, dass sie den Geruch von Hunden verabscheute und sich vor lautem Gebell fürchtete.
Sie stieg in den Aufzug und drückte auf E. Als die Türen sich langsam schlossen, kam wieder der verhasste Gedanke, der sich in den vergangenen Tagen immer häufiger Platz verschaffte. Frau Hoffmann kniff die Augen zusammen und versuchte krampfhaft an etwas Anderes zu denken, was ihr nach einer kleinen Weile auch gelang.
Sie schlenderte die Straße entlang, was sie gewöhnlich nie tat, denn schlendern tun für gewöhnlich nur Menschen, die müßig sind, was Frau Hoffmann ganz sicherlich nicht war, doch an jenem Abend schlenderte sie nach Hause. Nicht etwa, weil sie sich in einem Anfall von Spontaneität dazu entschieden hätte, sondern weil sie sich insgeheim viel zu sehr davor fürchtete, dass die U-Bahn erneut zwischen zwei Bahnhöfen stecken bleiben könnte.
Kapitel 3
Es war kurz nach zehn. Und noch immer saß Frau Hoffmann auf dem Sofa und starrte durch den Fernseher, obwohl sie sich schon längst auf den Weg ins Bad machen müsste, um sich dort ihrer all abendlichen Zahnpflege zu widmen. Auf ihrem Schoß lag eine Zeitung, neben ihr auf der Couch eine Schere. Sie hatte die Todesanzeigen aufgeschlagen. Oben rechts fehlte ein Trauernachruf. Diesen legte sie auf den kleinen Tisch vor dem Fernseher. Unser geliebter Ehemann, Vater und treuer Freund Henning hat uns vor seiner Zeit verlassen. Möge er im Himmel seinen letzten Frieden finden. Wir, diejenigen, die zurückbleiben, weinen im Stillen und ertragen die Leere, die an seine Stelle tritt. Doch eines Tages werden wir wieder vereint werden. Und diesen Tag ersehen wir voller Freuden. In Liebe, deine Frau Melanie, deine Kinder Nikolai und Nina und deine engen Freunde Peter und Ferdinand.
Frau Hoffmann weinte nicht gerne. Sie hasste es, dass die Nase anschließend immer verstopft war und die Augenlider anschwollen. Sie blinzelte mehrfach und wischte sich hastig mit dem Handrücken über die Wange. Dann stand sie auf und öffnete die Türe zu ihrem Balkon. Der kühle Wind streifte sanft über ihr Gesicht. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Das Licht des Mondes schimmerte in den Pfützen, die sich auf dem Boden gesammelt hatten. Zögernd ging sie zum Geländer. Frau Hoffmann ging nicht oft auf den Balkon. Doch wenn sie dann draußen stand, mochte sie das Gefühl des Windes auf ihrer Haut. Sie stützte sich auf die Brüstung und schaute in die Tiefe. Sie hatte so viele Dinge nicht getan. Und meistens deswegen, weil sie entweder unvernünftig oder zu gefährlich gewesen wären. Vielleicht war der Gedanke, den sie seit Tagen schon zu verdrängen suchte, in Wirklichkeit die Lösung all ihrer Probleme. Vielleicht war er nicht schlecht, sondern ein Weg aus dem Elend, in dem sie sich jeden Tag befand.
Erst hatte sie an weniger drastische Methoden gedacht, doch diese dann wieder verworfen, weil die Gefahr unentdeckt zu bleiben einfach zu groß gewesen wäre. Außerdem wollte sie nicht, dass ihr Tod ein Spiegelbild ihres Lebens wäre. Tabletten wären die feige Variante. Einen Fön in die Badewanne zu werfen, erschien ihr zu unsicher. Was wenn sie überleben würde? Und wie schon gesagt, was wenn erst der Geruch ihrer verwesenden Überreste die Nachbarn aufschrecken würde. Der Gedanke, dass sie stinkend und faulend in ihrem Bett, oder schlimmer noch, nackt in der Badewanne, gefunden würde, waren noch ekelerregender als Essensreste und verkrustetes Besteck. Nein, das käme nicht in Frage. Lieber blutverschmiert auf der kargen Betonanlage vor dem Hauseingang. Elf Stockwerke sollten reichen.
Als sie gerade versuchte, auf das vom Regen feuchte Geländer zu klettern, um
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