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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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dass es so sein musste. Vielleicht wusste sie es auch deswegen, weil es nur so weitergehen konnte, und weil sie wusste, dass es sich in ihrem Leben genauso zugetragen hatte. Die junge Frau nahm Anlauf und ohne einen Laut sprang sie über die Brüstung des Balkons in die bodenlose Tiefe.
    Sie war tot. Es war vorbei. Und auch, wenn Frau Hoffmann wusste, dass sie nun aufstehen und gehen konnte, tat sie es nicht. Denn in diesem Moment wurde ihr klar, dass der Tod der jungen Frau nichts gebracht hatte. Es hatte nichts geändert.
     
Kapitel 56  
    Frau Hoffmann saß zitternd in ihrem Bett. Ihr Flanellschlafanzug klebte an ihrer nass geschwitzten Haut. Einzelne Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht. Die Frau, die sie eben im Traum gesehen hatte, war gefasst und ruhig gewesen. Sie hatte es kommen sehen. Sie hatte es sich sogar gewünscht. Doch Frau Hoffmann war nicht gefasst. Sie war auch nicht ruhig. Die Tatsache, dass sie nur in ihrem eigenen Tod die Erlösung zu sehen schien, verängstigte sie. Und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass ein winziger Teil der jungen Frau noch da war. Der Teil der ihren Magen verkrampfen ließ, oder der Teil, der ihr Herz rasen, oder der, der sie schwitzen und weinen ließ, war der kleine Rest ihres alten selbst. Der Teil, der es überlebt hatte.
    Frau Hoffmann ging auf wackeligen Gelenken ins Bad. Ihre Knie fühlten sich an, als wären sie aus Wackelpudding. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Ihre Haut war von einem schimmernden Schweißfilm überzogen. Frau Hoffmann betrachtete sich im Spiegel. Doch die Frau, die sie interessiert musterte, war nicht sie. Diese Frau sah ruhig und gefasst aus. Sie schien nicht zu spüren, was Frau Hoffmann spürte. Diese fremde, harte Frau war Frau Hoffmann unheimlich und gleichzeitig war sie ihr vertraut. Und in diesem Moment dämmerte ihr, dass diese fremde, harte Frau die letzten Jahre ihr Überleben gesichert hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass Frau Hoffmann nicht auseinandergefallen war. Sie hatte die Entscheidungen getroffen, die zu treffen, Frau Hoffmann nicht im Stande gewesen wäre. Frau Hoffmann hatte sie gebraucht. Sie hatte den Scherbenhaufen aufgeräumt und das Atmen übernommen. Sie hatte die alte Wohnung gekündigt und die Wände weiß gestrichen. Sie hatte Hennings persönliche Dinge verpackt und zu seinen Eltern geschickt. Sie hatte eine Beerdigung und einen Umzug gleichzeitig organisiert, und zusätzlich den Termin beim Standesamt abgesagt und die Flugtickets storniert. Sie hatte die Zügel übernommen, weil die Frau Hoffmann von früher, aufgehört hatte zu existieren. Die neue, harte Frau Hoffmann hatte das Medizinstudium abgebrochen und nach Arbeit gesucht. Sie hatte schon in ihrem ersten Vorstellungsgespräch von sich überzeugen können und eine Woche später angefangen. Sie hatte niemandem von Hennings Tod erzählt. Denn im Leben der harten Frau Hoffmann gab es keinen Henning, und dementsprechend auch keinen Platz für Trauer. Die harte Frau Hoffmann hatte neu angefangen. Und weil sie nicht viel Geld hatte, war sie in eine Plattenbausiedlung gezogen, hatte alle Möbel, die sie mit Henning ausgesucht hatte an wohltätige Vereine gespendet und im Gegenzug alte Möbel bei wohltätigen Vereinen abgeholt. Anfangs fiel es der neuen Frau Hoffmann schwer, einzuschlafen. Doch nach einer Weile der intensiven Verdrängungsarbeit meisterte sie auch diese Hürde. Frau Hoffmann war vielleicht nicht lebendig gewesen, aber immerhin lebte sie noch. Sie hatte diesen verhangenen Novembertag überlebt und mit ihr, ein winziger Teil der alten, sanften Frau Hoffmann.
     
Kapitel 57  
    „Wo um Himmels Willen bist du gewesen?“, fragte Herbert aufgebracht. Renate schaute betreten zu Boden. „Geht es dir nicht gut?“, fragte Herbert und kam langsam auf sie zu. „Du bist ganz rot im Gesicht...“
    Renate wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ich habe mich übergeben...“, improvisierte sie wild.
    „Du hast was?“, fragte er erschrocken.
    „Es lag wohl am Bier...“, sagte Renate gespielt verlegen.
    „Komm, setz dich, Renate-Schatz...“ Er stützte sie zu einer Bierbank und setzte sich neben sie.
    Weit entfernt spürte Renate Hennings Blicke auf sich. Und auch, wenn er zweifelsohne eifersüchtig war, er schien gleichzeitig seinen Triumph über Herbert in vollen Zügen zu genießen. Renate stand auf, und Herbert tat es ihr gleich. „Ich glaube, ich gehe besser nach Hause...“, sagte sie und streichelte sich vorsichtig über

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