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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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gehalten, dass sie so sein konnte. Doch sie konnte.
    Zwanzig Minuten später rückte Renate ihren Rock zurecht und zog einzelne Zweige aus ihren Haaren. Die reine Vernunft hatte sie dazu bewogen aufzuhören. Renate spürte, wie das Blut durch ihre Adern schoss. Vereinzelte Schweißperlen liefen über ihre Stirn. Sie wusste, dass Herbert sie fragen würde, wo um Himmels Willen sie so lange gewesen war. Sie fragte sich auch, ob ihm aufgefallen war, dass nicht nur sie, sondern auch Henning fort gewesen war. Und sie fragte sich, wie sie die Tatsache erklären sollte, dass ihr ehemals weißer Rock nun dermaßen verschmutzt aussah.
    Henning zog sie noch einmal an sich. Ein letztes Mal küsste er sie, dann verschwand er. Sie schien erst jetzt zu begreifen, dass das alles tatsächlich geschehen war. Sie hatte Herbert betrogen. Sie hatte ihn hintergangen. Und obwohl sie versuchte sich deswegen schlecht zu fühlen, brachte sie es nicht über sich.
     
Kapitel 55  
    Da Barbara noch lebte, konnte Frau Hoffmann nicht vom Balkon springen. Ein Teil in ihr war äußerst erleichtert über diese Tatsache, ein anderer hingegen schien sich heimlich gewünscht zu haben, dass es endlich vorbei wäre. Frau Hoffmann schaute auf ihre Sanduhr. Noch eineinhalb Minuten. Der Schaum der Zahnpasta schmeckte scharf. Wäre Barbara gestorben, würde Frau Hoffmann in diesem Augenblick nicht Zähne putzen. Sie wäre gesprungen. Und auch, wenn es zugegebenermaßen einfach war, das zu behaupten, wenn man es nicht getan hatte, so war sich Frau Hoffmann sicher, dass sie an diesem Abend nicht gezögert hätte. Ganz tief in ihrem Inneren sehnte sie sich nämlich nach Frieden. Sie sehnte sich nach Ruhe. Und am meisten sehnte sie sich nach Henning. Und auch, wenn sie das nie laut ausgesprochen hätte, glaubte sie daran, dass sie nach ihrem Tod wieder mit ihm vereint wäre.
    Frau Hoffmann legte sich ins Bett. Ihre Füße waren eiskalt. Sie schien schon zu wissen, was sie in dieser Nacht träumen würde. Sie schien sich darüber klar zu werden, dass dieser Traum sie heimsuchen würde, bis sie endlich ihre Entscheidung getroffen hätte. Sie wusste, dass sie nichts daran ändern konnte. Und das, was sie hätte tun können, nämlich sich zu entscheiden, brachte sie nicht fertig. Henning hatte ihr immer gesagt, dass es im Leben darum gehe, sich zu entscheiden und zu diesen Entscheidungen zu stehen. Verärgert drehte Frau Hoffmann sich zur Seite. Was interessierte es sie, was Henning dazu zu sagen hatte. Henning war tot, und es war seine Schuld gewesen. Er hatte sie alleine gelassen. Und er hatte gewusst, dass sie sich immer davor gefürchtet hatte, dass genau das passieren könnte. Und es war passiert. Sie hatte recht gehabt. Doch Henning hatte sich entschieden und mit seinem Leben für diese Entscheidung bezahlt.
    Der Geruch von fauligem Fleisch lag in der Luft wie dichter Nebel. Die junge Frau saß regungslos neben Frau Hoffmann und starrte auf das edle Porzellan, auf dem ein riesiger verdorbener Fleischklumpen lag. Frau Hoffmann legte ihre Hand auf die der jungen Frau. Sie wusste, wie sie sich fühlte, weil sie ein Teil von ihr war, und doch auch wieder nicht.
    Frau Hoffmann fühlte sich elend. Sie konnte den Anblick und den entsetzlichen Gestank von verdorbenem Essen nicht mehr ertragen. Sie hätte alles gegeben, um diesen trostlosen und leeren Ort hinter sich lassen zu können, doch sie konnte die junge Frau nicht alleine lassen. Sie brauchte sie, auch wenn sie das nie laut ausgesprochen hatte. Frau Hoffmann spürte ihr Leiden, weil es ihr eigenes war, und sie wusste, dass sie sich dem stellen musste. Sie betrachtete die geflockte Milch, die träge in den Kristallkelchen schwamm, sie betrachtete den schönen Schein, von dem nur sie wusste, dass er nicht echt war. Sie betrachtete ihr Leben, das sich auf dieser reich gedeckten Tafel widerspiegelte.
    Nichts von dem, was sie vor sich sah, war lebendig, und doch war es auch noch nicht wirklich tot. Frau Hoffmann hatte es auf eine unnatürliche Art und Weise am Leben gehalten. Die junge Frau stand auf. Frau Hoffmann wusste, was geschehen würde. Sie war nicht nervös, sie wartete nur auf den Moment, in dem es endlich vorbei sein würde. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ersehnte diesen Moment. Sie war gefasst und ruhig.
    Und dann passierte es. Die junge Frau betrachtete ein letztes Mal den leblosen Klumpen Fleisch, dann drehte sie sich zu Frau Hoffmann. Sie schaute ihr tief in die Augen. Frau Hoffmann wusste,

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