Renate Hoffmann
nahm er sie in die Arme und küsste sie. Seine Lippen waren warm und weich. Allein dieser Kuss war all die Lügen wert gewesen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf seine Hände und den herben Duft, der in der schwülen Abendluft schwebte. Sie spürte seinen Körper an ihrem, sie roch seinen Schweiß und hörte seinen Herzschlag. Sie lagen in der weichen Wiese am Seeufer. Grillen zirpten. Henning knöpfte ihre Bluse auf. Er tat das vorsichtig, so als wolle er ihr die Möglichkeit geben, zu protestieren, was Renate jedoch nicht tat. Mit geschlossenen Augen lag sie im Gras. Wartend. Einzelne Härchen an ihren Armen zitterten im Wind. Es fühlte sich an, als würde sie schweben. Seine großen, warmen Hände streichelten sanft über ihre Haut. Und zum ersten Mal verstand Renate, warum Menschen aus Sexualität eine derart große Sache machen. Sie taten es, weil es eine große Sache war.
Renate öffnete die Augen und betrachtete den Ausdruck in Hennings Gesicht. Er schien sie zu fragen, ob ihr das alles zu schnell ging, er schien ihr zu sagen, dass er keinen Zweifel hatte. Er schien nicht fassen zu können, dass das gerade passierte. Renate schaute in lediglich an, dann lächelte sie. Als er sie wieder küsste, wurde ihr klar, dass sie schon mit ihm hatte schlafen wollen, als sie sich eng verschlungen hinter dem Transporter geküsst hatten. Auch sie zweifelte nicht. Sie hatte keine Angst. Und zum ersten Mal schienen sich Renates Kopf und Körper einig zu sein. Vielleicht auch deswegen, weil sie nicht nachdachte.
Er hielt sie ganz fest, während er sich langsam in ihr bewegte. Jede Zelle schien ihn zu spüren. Er füllte sie voll und ganz aus. Sie bestand nur noch aus Liebe und Verlangen. Die wenigen Momente mit Henning hatten alles andere verdrängt. Alles, was von ihr übrig schien, war eine junge leidenschaftliche Frau, die schwer atmend und schwerelos unter dem Mann lag, den sie begehrte. Sie genoss das Gefühl, dass ihr Körper seinen in sich aufsaugte, sie genoss die Kraft seiner Bewegungen. Sie genoss die schmatzenden, klebenden Geräusche, die ihre Körper machten und sie genoss seinen angestrengten Atem auf ihrer Haut. Es fühlte sich nicht an wie Betrug, es fühlte sich an, wie Vorsehung oder Schicksal, es fühlte sich an, wie ein Wunschtraum. Es fühlte sich unwirklich an. Doch es fühlte sich nicht an wie Betrug.
Kapitel 59
Renate kletterte auf den Balkon und schlich sich in ihr Zimmer. Das gesamte Haus war totenstill. Niemand hatte es bemerkt. Niemand außer Henning und ihr wussten etwas.
Renate legte sich ins Bett. Sie lächelte. Und sie konnte nicht damit aufhören. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich. Sie roch an ihrer Haut und roch seinen Duft. Sie spürte, wie ihre Halsschlagader vibrierte. Sie atmete tief ein und genoss, wie sich ihre Lungen mit Luft füllten. In Gedanken spürte sie seine Lippen und tauchte ein in diesen Kuss. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich lebendiger gefühlt. Noch nie freier. Plötzlich schien sie zu verstehen, warum so viele Frauen jahrelang vergeblich auf einen Höhepunkt hofften. Sie schliefen mit den falschen Männern. Sie schliefen mit all den Herberts dieser Welt.
Für einen kurzen Moment dachte Renate an die beängstigende Möglichkeit, dass sie schwanger sein könnte, und das nicht von Henning, sondern von Herbert. Doch dann atmete sie erleichtert auf, weil sie es am kommenden Tag wissen würde. Renate dachte an Hennings Gesichtssaudruck, als sie ihm davon erzählt hatte. Sie dachte an ihr vierstündiges Gespräch und an den Moment, in dem sie innerlich explodiert war. Renate kuschelte sich in ihre Decke und rieb mit ihren Füßen gegen den Überzug. Und obwohl Renate sich einzureden versuchte, dass sie sicher nicht schwanger war, fragte sie sich, was sie tun würde, sollte sie es doch sein.
Vier Stunden später wachte Renate auf. Herbert saß neben ihr und streichelte ihr sanft übers Haar. „Guten Morgen, Renate-Schatz...“, sagte er lächelnd.
Renate wusste nicht, was an diesem Morgen gut sein sollte. „Wie spät ist es?“, fragte sie verschlafen.
„Es ist acht Uhr“, antwortete Herbert.
Renate setzte sich auf. „Und warum weckst du mich bitte so früh auf?“, fragte sie gereizt.
Herbert rutschte unsicher hin und her. „Du gehst doch heute mit deiner Mutter ein Kleid aussuchen...“, sagte er vorsichtig. „Hast du das vergessen?“
Renate hatte es vergessen, doch darum ging es nicht. „Ich kann mich
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