Rendezvous im Hyde Park
ihrer Benommenheit. „Ist doch gar nicht wahr."
„O doch."
„Ich kenne ihn schließlich kaum."
„Anscheinend kennst du ihn gut genug."
Annabel sah, dass er auf dem Rückweg war, worauf in ihrer Brust etwas aufstieg, das sich fast wie Panik anfühlte.
„Louisa, sei bloß still. Das ist doch nur zum Schein. Er tut mir einen Gefallen."
Ungewohnt herablassend zuckte Louisa mit den Schultern. „Wenn du das sagst."
„Louisa", zischte Annabel, aber ihre Cousine trat schon beiseite, um Mr Grey durchzulassen.
„Das ist ein Walzer", verkündete er, als hätte er den Dirigenten nicht eben darum gebeten, einen zu spielen.
Er streckte die Hand aus.
Beinahe hätte sie sie ergriffen. „Louisa", sagte sie. „Sie sollten mit Louisa tanzen."
Er betrachtete sie forschend.
„Und dann mit mir", sagte sie leise. „Bitte."
Er verneigte sich und wandte sich an Louisa, doch die lehnte bedauernd ab und nickte in Annabels Richtung.
„Dann müssen Sie es sein, Miss Winslow", erklärte er sanft.
Sie nickte und trat vor, gestattete ihm, ihre Hand zu ergreifen. Ringsum hörte sie die Leute flüstern, sie spürte Blicke, aber als sie aufschaute und in seine klaren, grauen Augen sah, wurde alles andere bedeutungslos. Sein Onkel... der Klatsch ... all das spielte keine Rolle. Sie würde es nicht zulassen.
Sie gingen in die Mitte der Tanzfläche, sie drehte sich zu ihm, versuchte den Schauer der Vorfreude zu ignorieren, der sie überlief, als er seine Hand an ihre Taille legte. Annabel hatte nie verstanden, warum der Walzer einst als skandalös gegolten hatte.
Nun wusste sie es.
Er hielt sie, wie es sich gehörte, der Abstand zwischen ihnen betrug an die zwölf Zoll. Niemand hätte an ihrem Verhalten Anstoß nehmen können. Und doch hatte Annabel das Gefühl, als wäre die Luft ringsum erhitzt worden, als wäre ihre Haut mit einem merkwürdigen, schimmernden Zauber eingerieben worden. Jeder Atemzug schien ihre Lungen auf andere Weise zu füllen, sie war sich ihres Körpers so bewusst wie nie, wie er sich innen anfühlte, wie er sich bewegte, mit der Musik mitging.
Sie fühlte sich wie eine Sirene. Eine Göttin. Und als sie zu ihm aufsah, blickte er mit unverhohlen begieriger Miene auf sie hinunter. Er war sich ihres Körpers ebenfalls bewusst, erkannte sie, worauf sie sich innerlich nur noch gespannter, straffer fühlte.
Ganz kurz schloss sie die Augen und erinnerte sich daran, dass das alles nicht echt war. Sie spielten dem ton etwas vor, um sie in den Augen der Gesellschaft zu rehabilitieren. Indem er mit ihr tanzte, ließ Mr Grey sie nur begehrenswert erscheinen. Wenn sie sich tatsächlich - von ihm - begehrt fühlte, musste sie dafür sorgen, dass sie einen klareren Kopf bekam.
Er war ein ehrenhafter Mann und sehr großzügig, aber er war auch ein hervorragender Schauspieler auf der gesellschaftlichen Bühne. Er wusste genau, wie er sie ansehen, anlächeln musste, damit alle sagten, er sei in sie verliebt.
„Warum haben Sie mich gebeten, mit Ihrer Cousine zu tanzen?", fragte er. Seine Stimme klang seltsam, fast ein wenig erstickt.
„Ich weiß nicht", gab sie zu. Und das stimmte auch. Vielleicht wollte sie sich auch nicht eingestehen, dass sie einfach Angst gehabt hatte. „Sie hat noch keinen Walzer getanzt."
Er nickte.
„Und wäre es nicht gut für unsere Scharade", sagte sie, bemüht, schnell zu denken, „wenn Sie mit meiner Cousine tanzen würden? Diese Mühe würden Sie sich doch nicht machen, wenn Sie nur an ..."
„Nur was?", fragte er.
Sie leckte sich die Lippen. Sie waren trocken geworden.
„Wenn Sie nur an Verführung dächten."
„Annabel", sagte er, eine Anrede, die für sie überraschend kam. „Kein Mann schaut Sie an und denkt an etwas anderes als Verführung."
Sie sah zu ihm auf, erschrocken von dem kleinen Stich, den diese Aussage ihr versetzte. Lord Newbury hatte sie wegen ihres üppigen Körpers gewollt, ihrer großzügigen Brüste und ihrer breiten, gebärfreudigen Hüften. Und an die lüsternen Blicke, die ihr die anderen Männer (vielleicht mit Ausnahme der besonders korrekten Exemplare) zuwarfen, hatte sie sich weiß Gott noch immer nicht gewöhnt.
Aber Mr Grey ... Von ihm hatte sie gedacht, er wäre anders.
„Was zählt", sagte er ruhig, „ist der Umstand, ob sie da-rüber hinaus auch noch an etwas anderes denken."
„Tun Sie das?", flüsterte sie.
Er antwortete nicht sofort. Aber dann sagte er, als hätte er es selbst erst herausgefunden: „Ich glaube fast, ja."
Sie
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