Rendezvous im Hyde Park
unternommen."
Annabel betrachtete ihre Cousine aufmerksam, suchte in ihrer Miene nach irgendeiner unterschwelligen Bedeutung, doch Louisa sah sie nicht an. Sie hatte das Kinn erhoben, sah immer noch in die Menge, als suchte sie nach jemanden.
Vielleicht schaute sie auch nur ziellos herum.
„Was sein Onkel getan hat...", fuhr Louisa leise fort, „war unentschuldbar. Niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht, wenn er zurückgeschlagen hätte."
Annabel wartete noch ein wenig. Auf eine Erklärung. An-weisungen. Irgendetwas. Schließlich stieß sie die Luft aus, die sie die ganze Zeit angehalten hatte. „Bitte nicht", sagte sie. „Bitte nicht du auch noch."
Louisa drehte sich zu ihr um. „Was meinst du damit?"
„Genau das. Bitte sag einfach, was du meinst. Es ist so anstrengend, ständig erraten zu müssen, was die Leute einem sagen wollen, wenn es nichts mit dem zu tun hat, was ihnen tatsächlich über die Lippen kommt."
„Aber das habe ich doch", sagte Louisa. „Du sollst dir klar darüber werden, wie erstaunlich sein Benehmen gewesen ist. Nach allem, was sein Onkel ihm angetan hat, und das in aller Öffentlichkeit, wäre es kein Wunder gewesen, wenn er sich aus der gesamten Sache zurückgezogen und dich deinem Schicksal überlassen hätte."
„Na also, genau das will ich", rief Annabel aus, erleichtert, dass Louisa endlich erklärt hatte, was sie meinte, selbst wenn ihr das Thema nicht angenehm war. „Genau davon habe ich geredet. Jetzt ist alles klar. Das wollte ich hören."
„Was wollten Sie hören?"
Annabel hätte beinahe einen Satz rückwärts gemacht.
„Mr Grey!", quiekte sie.
„Zu Ihren Diensten", sagte er und verbeugte sich flott vor ihr. Er hatte sein blaues Auge mit einer Augenklappe abgedeckt, was an den meisten Männern lächerlich ausgesehen hätte. Bei ihm jedoch sah es unglaublich schneidig und verwegen aus. Annabel hätte allerdings gern den Kommentar zweier Damen überhört, die gesagt hatten, von diesem speziellen Piraten ließen sie sich gern überfallen.
„Sie wirken so konzentriert", sagte er zu ihr. „Worüber haben Sie beide denn gesprochen?"
Annabel sah keinen Grund, warum sie nicht fast ehrlich sein sollte. „Nur dass ich es anstrengend finde, immer erraten zu müssen, was die Leute einem eigentlich sagen wollen."
„Ah", sagte er. „Sie haben mit Fürst Alexei getanzt. Machen Sie sich nichts daraus. Er hat einen sehr starken Akzent."
Louisa kicherte.
Annabel widerstand dem Drang, ihr einen bösen Blick zuzuwerfen. „Niemand sagt, was er eigentlich meint", er-klärte sie.
Mit einem bemerkenswert ausdruckslosen Blick sah er sie an und sagte: „Was haben Sie denn erwartet?"
Aus der näheren Umgebung von Louisas Mund ertönte neuerliches Prusten, gefolgt von leisem, diskretem Gehüstel.
Louisa wäre nie so unverfroren, in der Öffentlichkeit laut zu lachen.
„ Mir macht es eigentlich ziemlich Spaß, in Rätseln zu sprechen", sagte Mr Grey.
Annabel spürte etwas in ihrer Brust. Vielleicht Überraschung. Oder auch Enttäuschung. Sie sah ihn an, nicht fähig, ihre Züge im Zaum zu halten. „Wirklich?"
Einen atemberaubend langen Moment sah er ihr in die Augen und sagte dann beinahe verblüfft: „Nein."
Annabel öffnete die Lippen, sagte jedoch nichts. Sie hielt den Atem an. Zwischen ihnen war soeben etwas Ungewöhnliches geschehen, etwas Erstaunliches.
„Ich glaube ...", sagte er langsam, „ich glaube, ich sollte Sie zum Tanzen auffordern."
Annabel nickte, beinahe benommen.
Er streckte ihr die Hand hin, zog sie dann wieder zurück und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie bleiben sollte, wo sie war. „Rühren Sie sich nicht von der Stelle", befahl er, „ich bin gleich wieder da."
Sie standen in der Nähe des Orchesters, und Annabel sah, dass er sich zum Dirigenten begab.
„Annabel!zischte Louisa.
Annabel zuckte zusammen. Ihre Cousine hatte sie ganz vergessen. Sie hatte alle vergessen. Ein paar wunderbare Augenblicke war der Ballsaal vollkommen leer gewesen. Bis auf sie, ihn und ihr leises Atmen.
„Du hast bereits mit ihm getanzt", sagte Louisa.
Annabel nickte. „Ich weiß."
„Die Leute werden reden."
Annabel drehte sich zu ihr um und blinzelte, versuchte sich auf Louisas Gesicht zu konzentrieren. „Die Leute reden ohnehin schon."
Louisa machte den Mund auf, als wollte sie noch mehr sagen, aber dann lächelte sie nur. „Annabel Winslow", sagte sie leise, „ich glaube fast, du bist dabei, dich zu verlieben."
Das riss Annabel aus
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