Rendezvous mit Übermorgen
stecke ich jetzt seit zweiunddreißig Stunden hier unten. Wieso ist noch keiner da ?
Sie rief sich die letzten Minuten vor ihrem Fall in Erinnerung. Sie hatten mit Wakefield über Funk gesprochen, und dann war sie noch einmal in die Scheune gelaufen, um die Gruben nach Takagishi abzusuchen. Richard nahm stets einen Navigationsfix vor, wenn sie auf Gegenfunk geschaltet waren, und Francesca wusste genau ...
War es möglich, dass der gesamten Mannschaft etwas zugestoßen war? Aber wenn nicht, wieso hatte niemand sie bisher gefunden? Nicole kämpfte mit einem Lächeln gegen die aufsteigende Panik an. Natürlich haben sie mich gefunden, aber ich war bewusstlos, und darum haben sie beschlossen ... Aber eine andere Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass dieses Denkmuster Quatsch sei. Denn wenn man sie gefunden hätte, würde man sie unter allen Umständen aus der Grube geholt haben.
Unwillkürlich überflog sie ein Schaudern, als ihr flüchtig die Schreckensvorstellung durch den Kopf schoss, man werde sie vielleicht überhaupt nicht finden. Sie zwang sich, an anderes zu denken, und begann mit der körperlichen Schadenseinschätzung aus ihrem Absturz. Vorsichtig ließ sie die Finger über den ganzen Schädelbereich gleiten. Sie ertastete mehrere Beulen, darunter eine dicke genau am Hinterkopf. Davon kam wohl die Bewusstlosigkeit. Aber es schien keine Frakturen zu geben, und die leichte Blutung war wohl schon vor Stunden zum Stillstand gekommen.
Sie betastete Arme und Beine, dann den Rücken. Überall Prellungen, aber wunderbarerweise keine Knochenbrüche. Der ab und zu einsetzende scharfe Schmerz dicht unterm Nacken ließ den Schluss zu, dass sie sich entweder einen Rückenwirbel angeknackst oder Nervenbahnen eingeklemmt hatte. Davon abgesehen würde sie gesund sein. Diese Entdeckung, dass ihr Körper mehr oder weniger überlebt hatte, ließ ihre Stimmung momentan steigen.
Dann unterzog sie ihre neue Umgebung einer Prüfung. Sie befand sich auf dem Grund einer tiefen, schmalen Grube; sechs Schritt lang, anderthalb breit. Mittels Lampe und hochgestrecktem Arm schätzte sie die Tiefe auf achteinhalb Meter.
Das Loch war leer; nur an einem Ende lag ein wirrer Haufen von Metallteilen, die zwischen fünf und fünfzehn Zentimeter lang waren. Im Schein ihrer Lampe untersuchte Nicole sie eingehend. Es waren über hundert Stück. Etwa zwölf unterschiedliche Typen. Manche lang und gerade, andere gebogen, einige mit Verbundstücken. Nicole fühlte sich an Abfall in einem modernen Stahlwerk erinnert.
Die Grubenwände waren völlig gerade. Das Material fühlte sich wie ein Hybridstoff aus Metall und Stein an. Es gab keine Unebenheiten, keine Kerbungen, die sie als Halt hätte benutzen können. Sie versuchte mit den Instrumenten ihres Medizinkoffers in die Wand zu schneiden oder zu schaben, doch sie hinterließen keinerlei Spuren.
Entmutigt trat sie wieder zu dem Schrotthaufen. Vielleicht konnte sie aus Stücken eine Art Leiter oder ein Gerüst zusammenbasteln, um darauf aus eigener Kraft aus der Grube zu kommen. Es sah nicht ermutigend aus. Die Metallstücke waren klein und dünn. Ein rascher rechnerischer Überschlag sagte ihr, dass da nicht genug Masse liege, um ihr Gewicht zu tragen.
Ihre Mutlosigkeit steigerte sich noch weiter, als sie eine kleine Essensportion verspeiste. Ihr fiel ein, dass sie sehr wenig Proviant und Wasser mitgenommen hatte, weil sie für Takagishi zusätzliche Medikamente eingepackt hatte. Selbst bei sorgfältiger Einteilung würde sie nur genug Wasser für einen Tag und Nahrung für höchstens sechsunddreißig Stunden haben.
Sie richtete den Lichtkegel ihrer Lampe direkt nach oben, wo er vom Dach der Scheune zurückprallte. Dabei fiel ihr ein, was sich vor ihrem Sturz ereignet hatte. Wie sich die Amplitude des Notsignals gesteigert hatte, sobald sie aus dem Bau trat. Na herrlich , dachte sie bedrückt, die Scheune wirkt im Innern wahrscheinlich wie eine Blackout-Zone für Funksignale. Kein Wunder, dass mich niemand gehört hat.
Dann schlief sie, da sie nichts anderes tun konnte. Acht Stunden später schreckte sie abrupt aus einem Angsttraum auf. Sie saß mit dem Vater und der Tochter in einem bezaubernden französischen Landgasthof. An einem wunderschönen Frühlingstag; im Garten neben dem Restaurant sah sie die Blumen. Der Kellner kam und setzte einen Teller Weinbergschnecken mit köstlicher Kräuterbutter vor Genevieve. Pierre bekam eine gigantische Terrine Huhn in Pilz-Wein-Sauce. Der Kellner
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