Rendezvous mit Übermorgen
Mädchen gegen alle seine Ängste an. Und ruhig und geduldig hatte die Mutter ihr Tag für Tag alle Fragen beantwortet und ihr immer wieder gesagt, dass viele, viele andere Mädchen schon immer ohne große Schwierigkeiten das Einweihungsritual ertragen hätten.
Nicoles liebste Erinnerung an diese Reise betraf ihr Hotelzimmer in Abidjan und die Nacht, ehe sie mit Anawi nach Paris zurückkehrte. In den dreißig Stunden, die vergangen waren, seit Nicole und die anderen Mädchen das Ritual überstanden hatten, war zwischen Mutter und Tochter das Poro nur ganz beiläufig erwähnt worden. Anawi hatte auch bisher noch kein Wort des Lobes gesagt. Natürlich hatten Omeh und die Dorfältesten Nicole gesagt, sie habe sich außergewöhnlich gut betragen, aber für ein Mädchen von sieben Jahren gibt es kein höheres Lob, kein wichtigeres als das von der eigenen Mutter. Kurz vor dem Abendessen hatte Nicole allen Mut zusammengenommen.
»Hab ich's richtig gemacht, Maman?«, fragte sie tastend. »Ich meine, beim Poro.«
Anawi war in Tränen ausgebrochen. »Hast du es richtig gemacht? Richtig gemacht?« Sie schlang die langen sehnigen Arme um die Tochter und hob sie hoch in die Luft. »Ach, meine Süße«, flüsterte die Mutter und hielt sie hoch über ihren Kopf, »ich bin dermaßen stolz auf dich, dass ich gleich platze!« Und Nicole sprang ihrer Mutter an die Brust, und sie umarmten sich und lachten und weinten eine ganze Viertelstunde lang vor Glück.
Sie lag auf dem Rücken am Grund der Grube, und die Erinnerungstränen rannen ihr seitlich übers Gesicht und in die Ohren. Seit fast einer Stunde dachte sie nun schon an ihre Tochter: an ihre Geburt und dann weiter an jedes wichtige Ereignis im Leben Genevieves. Der gemeinsame Ferientrip nach Amerika vor drei Jahren. Genevieve war elf geworden. Wie nahe hatten sie sich damals gestanden, besonders an jenem Tag, als sie die Wanderung über den South Kaibab-Trail in den Grand Canyon machten.
Sie hatten an allen Markierungspunkten halt gemacht und die Spur von zwei Milliarden Jahren Zeit auf der Oberfläche des Planeten Erde betrachtet. Auf einem Felsvorsprung über dem Tonto-Plateau hatten sie Mittagsrast gehalten und über die ausgedörrte Wüste geblickt. In der Nacht hatten sie dicht am Ufer des mächtigen Colorado River die Schlafmatten gebreitet, hatten geredet, einander Träume erzählt, Hand in Hand die ganze Nacht hindurch.
Ich hätte diesen Trip nicht gemacht , sann Nicole, die nun an ihren Vater dachte, wenn du nicht gewesen wärst. Du hast gewusst, es war die rechte Zeit dafür. Pierre des Jardins war der Eckpfeiler in ihrem Leben, war ihr Freund, ihr Beichtvater, geistiger Gefährte, glühendster Förderer. Er war bei Nicoles Geburt und in jedem wichtigen Punkt ihres Lebens dabei gewesen. Ihn vermisste sie jetzt am meisten; wenn sie die Wahl gehabt hätte, so wäre er es gewesen, mit dem sie ihr allerletztes Gespräch hätte führen wollen.
Jede einzelne isolierte Erinnerung an den Vater drängte sich ihr auf und forderte vor allen anderen erinnernde Wiederholung. Das geistige Bild ihres Vaters gab den Rahmen für alle Sequenzen ihres Lebens ab. Nicht alle davon waren glückliche. Sie erinnerte sich, wie sie zu zweit unweit Nidougou in der Savanne standen, sich stumm an den Händen hielten und lautlos weinten, während der Scheiterhaufen, auf dem Anawi lag, in die afrikanische Nacht loderte. Und sie fühlte noch immer Pierres tröstende Arme um sich, wie damals, als sie mit fünfzehn nach dem knappen Fehlschlag beim nationalen Jeanne-d'Are-Wettbewerb von endlosem trockenen Schluchzen geschüttelt wurde.
Ein Jahr nach dem Tod der Mutter waren sie - ein recht ungewöhnliches Paar - nach Beauvois gezogen und hatten dort zusammen gelebt, bis zu Nicoles drittem Studienjahr an der Universität in Tours. Ein idyllisches Dasein. Wenn sie von der Schule nach Hause geradelt war, stromerte Nicole durch die Wälder, die um die Villa lagen. Pierre arbeitete im Studio an seinen Romanen. Abends läutete Marguerite sie mit der Glocke zu Tisch, ehe sie sich selber, nach getaner Tagesarbeit, auf ihr Fahrrad schwang und zu Mann und Kindern in Luynes heimfuhr.
In den Sommern reiste Nicole mit Pierre durch ganz Europa, um die mittelalterlichen Städte und Schlösser zu besichtigen, in denen Pierres historische Romane vorwiegend spielten. Nicole wusste besser über Henry Plantagenet und Eleanor d'Aquitaine, seine Gemahlin, Bescheid als über die aktuellen politischen
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