Rendezvous mit Übermorgen
lächelte - und verschwand. Und langsam dämmerte es Nicole, dass sie nichts zu essen bekommen sollte.
Sie hatte nie zuvor wirklichen Hunger gekannt. Nicht einmal bei ihrer Poro-Initiation, als die Löwenjungen ihr den Proviant fortgeschleppt hatten, war sie wirklich ernsthaft hungrig gewesen. Vor dem Einschlafen hatte sie sich vorgenommen, das vorhandene Essen sorgfältig zu rationieren, aber das war, bevor der nagende Hunger überwältigend wurde. Und jetzt krallte sie mit zitternden Fingern ihre Nahrungspacks auf und konnte sich gerade noch zurückhalten, ehe sie alles aufaß. Den schäbigen Rest wickelte sie wieder ein und steckte ihn in eine Tasche. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. Und erst jetzt erlaubte sie sich zu weinen.
Und sie erlaubte sich auch die klare Erkenntnis, dass Verhungern eine entsetzliche Todesart sein musste. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie immer schwächer und schwächer würde und schließlich zugrunde ging. Würde der Prozess graduell verlaufen, in immer scheußlicheren Stufen der Qual? »Dann lieber schnell!«, sagte sie laut. Im Moment war sie völlig hoffnungslos. Die Digitaluhr glomm im Dunkel und flippte ungerührt die letzten kostbaren Sekunden ihres Lebens fort.
Mehrere Stunden verstrichen. Nicole wurde schwächer und immer mutloser. Aber gerade als sie schon völlig aufgeben und den Tod als Gewissheit hinnehmen wollte, erklang aus ihrem Innern heraus eine andere Stimme, eine optimistische Stimme, voller Sicherheit, die ihr verbot, aufzugeben. Die Stimme sagte ihr, dass jeder Lebensaugenblick kostbar und wundervoll ist, dass allein schon die Tatsache, dass sie ein mit Bewusstsein und Gefühl ausgestattetes Wesen war, ein überwältigendes Wunder der Natur sei. Nicole atmete langsam und sehr tief ein, dann öffnete sie die Augen. Wenn es mir bestimmt ist, hier zu sterben, sagte sie zu sich, dann wollen wir das doch wenigstens mutig tun, nicht kläglich seufzend. Sie beschloss, die ihr bleibende Zeit konzentriert darauf zu verwenden, die bedeutsamsten Augenblicke ihrer sechsunddreißig Jahre Revue passieren zu lassen.
Natürlich hatte sie noch einen Funken Hoffnung, dass man sie retten würde. Aber sie war schon immer eine praktische Frau gewesen, und so sagte ihr auch jetzt ihr logischer Verstand, dass die ihr verbleibende Lebenszeit wahrscheinlich nach Stunden bemessen sein werde. Während der gemächlichen Rückwanderung in die Schatzkammer ihrer liebsten Erinnerungen weinte Nicole mehrmals hemmungslos; Freudentränen über die wiedergewonnene Vergangenheit - und Tränen voll bitterer Süße, denn ihr war im Wiedererleben jeder Einzelheit bewusst, dass dies vermutlich der letzte Besuch war, den sie dieser Abteilung ihrer Gedächtnisbank abstattete.
Ihre Wanderungen durch ihr gelebtes Leben folgten keinem Plan. Sie ordnete nicht ein, bewertete nicht, verglich nicht. Sie lebte die Erfahrungen einfach neu, wie sie sich ihr boten, und jede alte Episode schien verwandelt und durch ihr geschärftes Bewusstsein überhöht und bereichert.
Die Mutter nahm einen besonderen Platz ein. Sie war gestorben, als Nicole gerade zehn war, und so hatte sie für Nicole alle Eigenschaften einer Königin oder Göttin bewahrt. Und Anawi Tiaso war wirklich schön gewesen und königlich, eine tiefdunkle Afrikanerin von ungewöhnlicher Haltung. Nicoles Erinnerungsbilder zeigten sie stets von sanftem glühendem Licht gebadet.
Nicole erinnerte sich an die Mutter im Salon in Chilly-Mazarin; sie winkte ihr zu und lud sie ein, sich auf ihren Schoß zu setzen. Anawi las ihr jeden Abend eine Bettgeschichte vor. Meistens Märchen von Prinzen und Schlössern und wunderschönen glückbegünstigten Leuten, die mit jedem Hindernis fertig wurden. Die Stimme der Mutter war weich und voll. Und sie sang Nicole Schlummerlieder, bis ihre Augenlider schwerer und immer schwerer wurden.
Die Sonntage ihrer Kindheit waren besondere Tage. Im Frühjahr ging man in den Park und tollte auf den weiten Rasenflächen. Die Mutter lehrte Nicole das Laufen als Sport. Als junge Frau war sie als Sprinterin internationale Weltklasse gewesen. Und nichts war für die kleine Nicole schöner gewesen, als ihre Mutter graziös über den Rasen laufen zu sehen.
Natürlich erinnerte sie sich lebhaft an alle Einzelheiten der Reise mit Anawi zur Elfenbeinküste zu ihrem Poro. Ihre Mutter hatte sie im Arm gewiegt in jenen Nächten in Nidougou vor der Zeremonie. In den langen Nächten voller Bedrängung kämpfte das kleine
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