Rendezvous mit Übermorgen
Eroberer hatten es für ausgeschlossen gehalten, dass die Vorfahren von dermaßen unwissenden und verelendeten Leuten die überwältigenden Heiligtümer erbaut haben konnten. Wäre sowas auch hier denkbar?, überlegte Nicole. Sind vielleicht diese seltsamen Fluggeschöpfe der Rest der einstigen überlegenen Spezies, die das Raumschiff gebaut hat?
Bei etwa zwanzig Metern Tiefe hörte Nicole ein Geräusch, das wie fließendes Wasser klang. Die Lautstärke nahm zu, als sie sich auf einen Sims niederließ, der eigentlich die Schwelle zu einem horizontalen Tunnel war, der hinter ihrem Rücken abzweigte. An der gegenüberliegenden Wand sah sie einen ähnlichen dunklen Gang, gleichermaßen parallel zur Oberfläche der Plaza, der in die entgegengesetzte Richtung führte.
Der vogelhafte Führer befand sich immer noch drei Absätze unter ihr. Nicole streckte deutend den Arm zu dem Tunnel hinter sich aus. Der Vogel flog zu ihr herauf und hielt schwebend kurz über den beiden folgenden tieferen Simsen an, wodurch er Nicole unmissverständlich bedeutete, dass sie weiter hinabsteigen solle.
Aber Nicole war nicht bereit, so leicht aufzugeben. Sie zog ihren Wasserbeutel hervor und veranstaltete eine Pantomime des Trinkens. Dann wies sie auf einen dunklen Tunnel hinter sich. Der Vogel flatterte umher, anscheinend in einem Entscheidungszwiespalt. Dann flog er über Nicoles Kopf hinweg in den schwarzen Gang. Vierzig Sekunden später sah Nicole in der Ferne ein Licht, das auf sie zukam und größer wurde. Der Vogel kam zurück, und in einem seiner Fänge hielt er eine große brennende Fackel.
Nicole folgte dem Vogel etwa fünfzehn Schritte weit. Sie gelangten in einen links vom Gang liegenden Raum, in dem sich eine große Zisterne befand. Aus einem Rohr in der Wand floss frisches Wasser in die Zisterne nach. Nicole holte ihr Massenspektrometer hervor und prüfte die Flüssigkeit. Es war praktisch reines H20; außer im Millionstelbereich enthielt sie keine sonstigen chemischen Stoffe. Auf gute Manieren bedacht legte Nicole die Hände zusammen und trank von dem fließenden Wasser. Es war unendlich köstlich.
Dann ging sie in gleicher Richtung tiefer in den Tunnel hinein. Der Vogel geriet in wilde Panik, flatterte auf und nieder und keckerte unablässig, bis Nicole kehrtmachte und zu dem vertikalen Schacht zurückging. Beim weiteren Absteigen fiel ihr dann auf, dass der allgemeine Helligkeitspegel inzwischen beträchtlich niedriger war. Sie blickte nach oben: Die Öffnung zur New Yorker Plaza war wieder verschlossen. Na, hoffentlich bedeutet das nicht, dass ich jetzt auf ewig hier festsitze , dachte sie.
Zwanzig Meter weiter unten wiederholte sich das Muster, und zwei dunkle horizontale Tunnels zweigten vom vertikalen Hauptschacht ab. Und hier führte der Samtvogel mit der Fackel Nicole etwa zweihundert Meter tief in einen der horizontalen Gänge hinein bis zu einem kreisförmigen hohen Raum. Der Vogel steckte mit seiner Fackel eine Reihe Wandleuchten an. Dann verschwand er. Und blieb beinahe eine Stunde lang weg. Nicole saß da und blieb so geduldig, wie es ihr nur möglich war.
Zunächst schaute sie sich in dem schwarzen Gemach um, das sie irgendwie an ein Grotto, eine Höhle erinnerte. Der Raum war völlig schmucklos. Aber nach einiger Zeit begann sie zu überlegen, auf welche Weise sie den Fluggeschöpfen die Botschaft übermitteln könne, dass sie jetzt eigentlich ganz gern wieder wegwollte.
Ihr samtiger Freund kam dann schließlich doch zurück, und zwar mit vier Begleitern. Nicole hörte die Flügelschläge im Schacht und ab und zu ihr glucksendes Keckem. Der Gefährte »ihres« Samtvogels (sie hielt ihn aus irgendeinem Grund für einen irgendwie engen Partner) und zwei weitere Kreaturen mit linoleumartiger Körperbedeckung kamen zuerst hereingeflogen. Sie landeten und stakten dann sehr unbeholfen ziemlich dicht an Nicole heran, anscheinend um sie einer visuellen Prüfung zu unterziehen. Nachdem sie sich dann am anderen Ende des Raumes niedergelassen hatten, flog zuletzt ein weiteres samthäutiges Geschöpf herein, das allerdings nicht schwarz, sondern braun war. In den Krallen trug es eine kleine Manna-Melone.
Die »Frucht« wurde vor Nicole niedergelegt. Alle Vögel sahen erwartungsvoll zu. Nicole schnitt mit dem Skalpell säuberlich ein Achtelsegment aus der Schale, hob die Melone an die Lippen und trank einen kleinen Schluck der grünlichen Flüssigkeit darin. Dann brachte sie die Melone ihren Gastgebern. Diese
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