Rendezvous mit Übermorgen
einer Begegnung mit einem rätselhaften fremden Raumschiff entgegen fliege. Manchmal verbockt sich der menschliche Verstand störrisch gegen die Wahrheit.«
»Vielleicht ist es ja bloß ein Traum«, sagte ihre Tochter sanft. Nicole lächelte. Sie mochte diese Verspieltheit in Genevieve
gern. Immer wenn der Alltagskram von angespannter Arbeit und langweiliger Vorbereitung Nicole zu erdrücken drohte, konnte sie damit rechnen, dass das heitere Gemüt ihrer Tochter ihr die trübe Laune vertrieb. Sie waren wirklich ein gut eingespieltes Trio, alle drei, wie sie da in Beauvois lebten. Jeder als Individuum unendlich abhängig von den zwei anderen. Nicole mochte gar nicht daran denken, wie diese hunderttägige Trennung sich auf ihre harmonische Gleichgestimmtheit auswirken könnte.
»Stört es dich, dass ich so lang wegsein werde?«, fragte sie, als sie ins Hotelfoyer traten. Um ein tosendes Kaminfeuer in der Mitte der Hall saß ein Dutzend Gäste. Ein schweizerischer Kellner servierte mit meisterlicher Unaufdringlichkeit den Apres-Ski-Gästen heiße Getränke. In einem »Morosani«-Hotel würde es niemals Roboter geben, nicht einmal für den Zimmerservice.
»Ach, ich seh' das gar nicht so«, antwortete Nicoles Tochter fröhlich. »Schließlich kann ich ja fast jede Nacht mit dir videophonieren. Und die Zeitverschiebung macht das bestimmt noch interessanter. Und ist 'ne richtige Herausforderung. Aufregend.« Sie gingen an der altmodischen Reception vorbei. »Und außerdem«, fügte Genevieve hinzu, »bin ich natürlich während eurer ganzen Mission in der Schule eine höchst wichtige Person. Das Thema für meine Klassenarbeit steht auch schon fest. Ich verfasse ein Psychogramm der Ramaner auf der Grundlage meiner Unterhaltungen mit dir.«
Nicole schüttelte den Kopf und lächelte wieder. Genevieves Optimismus wirkte wie stets ansteckend. Wie schade nur, dass ...
»Ah, Madame des Jardins ...« Eine Stimme drängte sich in ihre Gedanken. Der Hoteldirektor winkte ihr vom Empfang her zu. »Hier ist eine Nachricht für Sie. Man hat mich gebeten, sie Ihnen persönlich zu überreichen.«
Er händigte ihr einen kleinen neutralen Umschlag aus. Nicole öffnete ihn und erblickte nur das winzige obere Teilchen eines Wappens auf der Karte. Ihr Herz begann zu rasen. Sie klappte den Umschlag wieder zu. »Was ist denn, Mutter?« drängte Genevieve. »Das muss ja was ganz Tolles sein, wenn es nur persönlich übergeben werden kann. Sowas macht doch heut kein Mensch mehr!«
Nicole mühte sich, ihre Gefühle zu verbergen. »Ein vertrauliches Memo zu meiner Arbeit«, log sie. »Der Überbringer hat einen scheußlichen Fehler gemacht. Das hätte er nicht einmal Herrn Graf geben dürfen. Nur mir persönlich.«
»Noch mehr vertrauliche Daten über die Fitness der Besatzung?« Sie hatte oft mit ihrer Mutter über die delikate Funktion des Biowissenschaftlers auf wichtigen Weltraumflügen gesprochen.
Nicole nickte. »Liebes, ach, sei doch so nett und lauf mal rasch rauf und sag Großvater, ich komme gleich. Wir bleiben beim Dinner um halb acht, ja? Und ich lese mir das da inzwischen durch, falls eine sofortige Antwort nötig sein sollte.«
Nicole gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss, wartete, bis diese im Aufzug verschwunden war, und erst dann trat sie wieder in den leichten Schnee hinaus. Mit klammen Fingern öffnete sie erneut den Briefumschlag. Ihre Finger zitterten heftig. Du blöde Närrin , dachte sie. Du unvorsichtige Idiotin, nach all den Jahren! Und wenn die Kleine das nun gesehen hätte...
Es war das gleiche Wappen, natürlich, wie vor fünfzehn und einem halben Jahr, als Darren Higgins ihr vor dem Olympischen Pressezentrum die Dinner-Einladung überreicht hatte. Die Wucht ihrer Gefühle überraschte Nicole, doch sie zwang sich zur Härte und las endlich, was unter dem Wappen geschrieben stand.
Tut mir leid, dass dies so überstürzt kommt. Muss dich morgen sehen. Schutzhütte 8 am Weißfluhjoch. Komm allein. Henry.
Am Morgen darauf war Nicole unter den ersten Skifahrern in der Schlange am Kabinenlift zum Weißfluhjoch. Mit etwa zwanzig anderen stieg sie in die blitzblanke Glaskabine, lehnte sich gegen die Scheibe, und die Automatiktür zischte zu. Ich hab ihn in den ganzen fünfzehn Jahren nur einmal gesehen... und trotzdem...
Als die Seilbahn höher stieg, zog Nicole sich die Schneebrille über die Augen. Ein glitzernd prachtvoller Morgen, fast wie jener andere Januarmorgen vor sieben Jahren, als ihr Vater sie in die
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