Rendezvous mit Übermorgen
vernehmen. Sie erstarrte und lauschte, aber ein paar Sekunden lang blieb alles still. Fast glaubte sie schon, ihr Gehör spiele ihr einen Streich, als das Klopfen sich wiederholte. Sie zog den Hotelbademantel enger um sich und trat sehr vorsichtig an die verriegelte Tür. »Wer ist da?«, fragte sie mit lauter, aber nicht sehr sicherer Stimme. »Weisen Sie sich aus!«
Ein gefaltetes Stück Papier wurde unter der Tür durchgeschoben. Immer noch erschrocken und auf der Hut hob sie es auf und öffnete es. Da standen in der alten Senoufo-Schrift des Stammes ihrer Mutter drei schlichte Wörter: Ronata -Omeh Hier. Ronata war der Senoufo-Name Nicoles.
Panik, mit Erregung gemischt, veranlasste Nicole, die Tür zu öffnen, ehe sie sich über den Monitor vergewisserte, wer draußen wartete. Drei Meter von ihrer Tür entfernt, die Augen fest in ihre starrend, stand ein uralter, verhutzelter Mann, dessen Gesicht mit horizontalen grünen und weißen Streifen bemalt war. Er trug eine bodenlange leuchtendgrüne Stammesrobe mit krakeligen Goldmustern und scheinbar bedeutungslosen Zeichnungen.
»Omeh!«, sagte Nicole in Senoufo. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals. »Was machst du denn hier?«
Der alte Mann antwortete nicht. Er hielt ihr nur mit der Rechten einen Stein und irgendein kleines Fläschchen entgegen. Nach sekundenlanger Pause kam er zielbewusst ins Zimmer, und Nicole wich Schritt für Schritt zurück. Seine Augen ließen sie keinen Moment lang los. Als sie dann, nur drei, vier Schritte voneinander entfernt in der Mitte des Raumes standen, blickte der Alte zur Decke und begann zu singen. Es war ein Ritualgesang der Senoufo, ein allgemeiner Segenszauber, wie ihn der Stammespriester seit Hunderten von Jahren vollzog, um böse Geister zu vertreiben.
Als er zu Ende war, blickte der alte Mann Omeh seine Urenkelin erneut starr an. Dann begann er langsam zu sprechen. »Ronata, Omeh fühlt große Gefahr in diesem Leben. Es steht geschrieben in den Weisbüchern des Stammes, dass der Mann der drei Jahrhunderte die Dämonen des Unheils von dem Weib ohne Gefährten vertreiben wird. Aber Omeh kann Ronata nicht mehr schützen, wenn Ronata das Königreich Minowe verlassen hat.« Er ergriff ihre Hand und legte ihr den Stein und das Flakon hinein. »Hier, diese Dinge sollen stets bei Ronata sein.«
Nicole besah sich den Stein, ein glattpoliertes Oval, etwa acht Zoll lang und vier Zoll breit und hoch. Der Stein war gelblichweiß und nur von seltsam gewundenen braunen Linien bedeckt. Der kleine grüne Flakon war so klein wie ein Minifläschchen Parfüm für unterwegs.
»Das Wasser aus dem See der Weisheit kann Ronata helfen«, sagte Omeh. »Ronata wird es wissen, wann sie trinken soll.« Dann legte der Alte den Kopf wieder in den Nacken und wiederholte, diesmal mit geschlossenen Augen, die vorherige Inkantation. Nicole stand verwirrt und stumm bei ihm und hielt den Stein und das Fläschchen auf der rechten Handfläche. Als Omeh mit der Beschwörung zu ende war, rief er laut drei Worte, die Nicole nicht verstand. Dann machte er abrupt kehrt und schritt rasch zur offenen Tür hinaus. Bestürzt lief Nicole ihm auf den Gang nach, sah aber nur noch, wie das grüne Gewand im Aufzug verschwand.
14 Goodbye, Henry
Arm in Arm stiegen Nicole und Genevieve im leichten Schnee den Hang hinauf. »Hast du gesehen, wie der Amerikaner geglotzt hat, als ich ihm sagte, wer du bist?« Sie lachte. Sie war sehr stolz auf ihre Mutter.
Nicole lud sich die Skier und Stöcke auf die andere Schulter, als sie dem Hotel näher kamen. »Guten Abend«, murmelte ein alter Mann, der an ihnen vorbeistapfte und einen wunderschönen Nikolaus abgegeben hätte. Nicole sagte: »Mir wär' es lieber, wenn du das den Leuten nicht immer gleich unter die Nase reiben würdest.« Aber sie war ihrer Tochter nicht wirklich böse. »Manchmal ist es ganz angenehm, wenn einen keiner erkennt.«
Neben dem Hoteleingang stand eine kleine Remise für die Skiausrüstung. Sie verstauten ihre Ausrüstung in einem Schließschrank. Sie vertauschten die Skistiefel mit weichen Schneestiefeletten und traten wieder in das schwindende Licht hinaus. Dann standen Mutter und Tochter ein Weilchen da und blickten den Hang hinab auf Davos. »Du, weißt du«, sagte Nicole, »heut bei unserm Wettlauf über die Piste nach Klosters zurück, da hat es einen Augenblick gegeben, in dem ich es einfach nicht glauben konnte, dass ich in knapp zwei Wochen da draußen« - sie wies in den Himmel - »sein werde und
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