Rendezvous mit Übermorgen
verlaufenden Senoufo-Leben gab es drei Porös, drei »Übergangsrituale«, Metamorphosen, die unabdingbar waren, ehe das Kind als Erwachsener in die Stammesgemeinschaft aufgenommen werden konnte. Zwar bewirkte die Einführung moderner Telekommunikationsgeräte in den Dörfern der Elfenbeinküste im 21. Jahrhundert, dass viele Stammesbräuche ausgelaugt und obsolet wurden, aber das Poro hielt sich als fester Bestandteil im sozialen Leben der Senoufo auch weiterhin. Im 22. Jahrhundert erlebten die alten Stammesriten eine Art Renaissance, insbesondere nachdem das Große Chaos der Mehrzahl der afrikanischen Führungspersönlichkeiten drastisch bewiesen hatte, dass es gefährlich war, in zu hohem Maß von der Außenwelt abhängig zu sein.
An dem Nachmittag, an dem die Stammespriester kamen, um Nicole zum Poro wegzuführen, bewahrte Anawi ein bühnenreifes Lächeln im Gesicht. Sie wollte nicht, dass ihre ängstliche Beklemmung sich auf ihr Kind übertrüge. Dennoch verstand Nicole, dass die Mutter unruhig war. »Du hast ganz kalte und feuchte Hände, Maman«, flüsterte sie französisch, als sie Anawi vor dem Aufbruch umarmte. »Mach dir keine Sorgen, ich schaff das schon.« Tatsächlich sah Nicole, das einzige braune Gesicht inmitten des Dutzends schwarzer Mädchen, die auf die Karren stiegen, beinahe fröhlich und erwartungsvoll aus, als gehe es zu einer Fahrt in einen Vergnügungspark oder einen Zoo.
Insgesamt waren es vier Wagen, zwei für die kleinen Mädchen und zwei andere, die verhüllt waren und deren Fracht unerklärt blieb. Lutuwa, eine Freundin, die Nicole vier Jahre zuvor gefunden hatte und die eine Cousine von ihr war, erklärte den anderen Mädchen, in den zwei andren Wagen befänden sich die Priester und die »Folterinstrumente«. Es trat ein langes Schweigen ein, ehe eines der kleinen Mädchen allen Mut zusammenraffte und Lutuwa fragte, was sie damit gemeint habe.
»Ich habe das Ganze vor zwei Nächten geträumt«, sagte Lutuwa sachkundig. »Die verbrennen uns die Brustspitzen und stoßen und schieben uns scharfe Gegenstände in alle unsere Hoffnungen. Und solang wir nicht schreien, verspüren wir gar keine Schmerzen.« Die übrigen fünf kleinen Mädchen, einschließlich Cousine Lutuwa, in Nicoles Karren sprachen in der nächsten Stunde kaum ein Wort miteinander.
Als die Sonne sank, waren sie eine große Strecke ostwärts gefahren - an der aufgegebenen Hochfrequenzsendestation vorbei bis zu dem besonderen Bereich, den nur die religiösen Eingeweihten und Stammespriester kannten. Das Halbdutzend dieser Priester errichtete Notunterstände und begann ein Lagerfeuer zu bauen. Als es völlig dunkel geworden war, wurden den Initianden, die im weiten Kreis mit gekreuzten Beinen um das Feuer hockten, Essen und Trinken gereicht. Danach begann der Tanz der Masken. Omeh erzählte, was die vier Tänze bedeuteten. Jeder war einem besonderen einheimischen Tier geweiht. Die Musik wurde von Schlagtrommeln und primitiven Xylophonen gemacht, den Rhythmus gab die monotone Tamtam-Trommel. Hin und wieder wurde eine besonders bedeutsame Stelle der Erzählung durch ein lautes Röhren des »Oliphants«, des gewaltigen Jagdhorns aus einem Elefantenstoßzahn, besonders unterstrichen.
Vor dem Schlafengehen händigte Omeh, der immer noch die imposante Maske und den Kopfschmuck des Großhäuptlings trug, jedem Mädchen einen großen Sack aus Antilopenfell aus und befahl ihnen, den Inhalt genau zu untersuchen. Da gab es eine Wasserflasche, eine Hand voll getrockneter Früchte und Nüsse, zwei Negerbrote, etwas, um damit zu schneiden, eine Länge Strick, zwei verschiedene Arten Salbe und die Knolle einer unvertrauten Pflanze.
»In der Morgenfrühe werden alle Kinder aus dem Lager gebracht«, sagte Omeh, »und einzeln an einen nicht allzu weit entfernten Ort geführt. Das Kind bekommt nichts außer den Geschenken in dem Antilopensack mit. Jedes Mädchen muss versuchen, allein zurechtzukommen und zu überleben, und muss zu dieser gleichen Stelle wieder zurückfinden, wenn die Sonne am nächsten Tag voll am Himmel steht...
... Der Fellsack enthält alles Nötige - außer Weisheit, Mut und Neugier. Die Knolle ist aber etwas ganz Außergewöhnliches. Wenn das Kind diese saftige Wurzel verzehrt, wird es Schreckliches erleben, aber sie vermag ihm auch außergewöhnliches Durchhaltevermögen zu bringen und visionäre Kraft.«
20 Gesegneter Schlaf
Das Kind war bereits fast zwei Stunden alleingelassen, ehe es wirklich zu begreifen
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