Rendezvous mit Übermorgen
Johanna gelesen und die Videos von zig Vorstellungen angesehen. In fast allen Testbereichen lag sie praktisch in der Spitzengruppe - außer, was »Typeignung« betraf. Sie hätte gewinnen müssen, aber sie gewann nicht. Ihr Vater tröstete sie und sagte ihr, in Frankreich sei man noch nicht so weit, dunkelhäutige Nationalheldinnen zu akzeptieren.
Aber das war ja eigentlich kein persönliches Versagen, sagte sie sich. Und außerdem war Papa da und hat mich getröstet. Dann kam eine Bilderinnerung an die Bestattung ihrer Mutter ihr in den Sinn. Sie war damals zehn gewesen. Ihre Mutter war allein an die Elfenbeinküste gereist, um die afrikanischen Verwandten zu besuchen. Anawi hielt sich in Nidougou auf, als eine Epidemie des akuten Hoganfiebers über das Dorf hereinbrach. Nicoles Mutter war rasch gestorben.
Fünf Tage später war Anawi, gemäß ihrem Rang als Senoufo-Prinzessin, verbrannt worden. Nicole weinte, während Omeh die Seele ihrer Mutter durch die Unterwelt sang und hinüber in das Land der Vorbereitung, in dem die Toten ausruhen und warten, bis sie für ein neues Erdenleben erwählt werden. Als die Flammen den Scheiterhaufen emporleckten und die Königsrobe ihrer Mutter zu brennen begann, überfiel Nicole ein Gefühl bedrückender Verlassenheit und des Verlustes. Aber damals war mein Vater neben mir. Und er hielt meine Hand fest, während wir zuschauten, wie Mutter verschwand. Gemeinsam war es nicht so schwer. Ich hab mich viel tiefer allein gefühlt beim Poro. Und ich hatte viel mehr Angst.
Sie hatte die Mischung aus Entsetzen und Hilflosigkeit noch immer nicht vergessen, die ihr siebenjähriges Körperchen an jenem Frühlingsmorgen auf dem Flughafen von Paris gepackt hatte. Papa hatte sie sehr zärtlich gestreichelt. »Liebling, meine süße kleine Nicole«, hatte er gesagt. »Du wirst mir sehr fehlen. Komm mir gut zurück!«
»Aber warum muss ich denn fort, Papa?«, hatte sie gefragt. »Und wieso gehst du denn nicht mit mir?«
Er hatte sich zu ihr niedergebückt. »Du sollst Teil des Volks deiner Mutter werden. Alle Kinder der Senoufo machen mit sieben Jahren den Poro-Zauber durch.«
Nicole hatte zu weinen begonnen. »Aber, Papa, ich will nicht fort! Ich bin doch französisch, nicht afrikanisch. Und ich mag diese ganzen fremden Leute nicht und die Hitze und die widerlichen Viecher ...«
Ihr Vater legte ihr fest die Hände ums Gesicht. »Du musst aber gehen, Nicole. Deine Mutter und ich haben es so beschlossen.« Anawi und Pierre hatten auch wirklich viele Male darüber gesprochen. Nicole hatte ihr ganzes bisheriges Leben in Frankreich verbracht. Über ihr afrikanisches Erbe wusste sie weiter nichts als das, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte und was sie auf zwei vierwöchigen Besuchen bei deren Familie aufgeschnappt hatte.
Pierre war es gewiss nicht leichtgefallen, sein geliebtes Töchterchen zu diesem »Poro« gehen zu lassen. Er wusste, das war ein primitiver Einweihungsritus. Und er wusste auch, dass es sich dabei um einen der Eckpfeiler der überlieferten Religion der Senoufo handelte und dass er bei der Vermählung mit Anawi dem Stammeszauberer, Omeh, versprochen hatte, dass alle Kinder aus dieser Verbindung wenigstens für das erste Poro-Ritual nach Nidougou zurückkehren sollten.
Am schwersten fiel Pierre, dass er nicht mitdurfte. Aber Anawi hatte recht. Er war der Außenseiter. Er würde nicht am Poro teilhaben können. Er würde es gar nicht verstehen. Und seine Anwesenheit würde die Kleine ablenken. Er fühlte einen dumpfen Schmerz in seiner Brust, als er seine Frau und Nicole küsste, ehe sie in die Maschine nach Abidjan stiegen.
Aber auch Anawi sah mit Unruhe dem Initiationsritual entgegen. Nicole, ihr kleines Mädchen, war kaum sieben, und sie hatte sie vorbereitet, so gut sie es vermochte. Die Kleine war sprachbegabt und hatte Senoufo, wenigstens in den Grundlagen, sehr leicht bewältigt. Doch ohne Zweifel gab es für sie im Vergleich zu den übrigen Kindern einen schweren Nachteil. Die übrigen hatten ihr Leben in der Atmosphäre und dem Land um die heimischen Dörfer zugebracht. Sie kannten sich dort aus. Um das Orientierungsproblem etwas abzumildern, trafen Anawi und Nicole eine Woche vor dem Beginn der Zeremonie ein.
Die dem Poro zugrundeliegende Vorstellung war, dass alles Leben aus einer Folge von Phasen oder Zyklen bestehe und dass jeder »Übergang« durch eine deutliche Zäsur besonders hervorgehoben werden müsse. Jeder Zyklus dauerte sieben Jahre. In jedem normal
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