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Rendezvous mit Übermorgen

Rendezvous mit Übermorgen

Titel: Rendezvous mit Übermorgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke
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durch das Unterholz brach, um das Geschöpf aufzuspüren, das geschrien hatte. Nicole schabte sich zitternd die Ameisen mit einem Zweig vom Körper. Dann sah sie die Löwin, deren Jägeraugen sie starr durch die Dunkelheit fixierten. Nicole wurde fast ohnmächtig. Aber in ihrer Schreckstarre erinnerte sie sich undeutlich, was Omeh über die Knolle gesagt hatte. Sie schob sich die erdverkrustete Knolle in den Mund und begann heftig zu kauen. Es schmeckte scheußlich, aber sie zwang sich, das Zeug hinunterzuschlucken.
    Und dann hastete Nicole durch das Gehölz, und die Löwin verfolgte sie. Aste und Laub schnitten ihr ins Gesicht und den Oberleib. Einmal glitt sie aus und stürzte. Als sie am Teich war, zögerte sie nicht. Sie lief über das Wasser, und ihre Sohlen berührten kaum seine Oberfläche. Sie schlug mit den Armen auf und nieder. Die hatten sich zu Flügeln verwandelt, zu weißen Schwingen. Sie berührte nun auch das Wasser nicht mehr. Sie war ein prächtiger weißer Reiher und schwang sich hinauf und empor in den nächtlichen Himmel. Sie zog einen Kreis und betrachtete sich die verwirrte Löwin tief unten. Nicole gluckste lachend in sich hinein, schlug heftiger mit ihren Schwingen und stieg über all die Baumwipfel hinaus. Unter ihr breitete sich die gewaltige Savanne. Sie konnte hundert Kilometer weit blicken.
    Sie überflog den Brackwassertümpel, wandte sich nach Westen und entdeckte ein Lagerfeuer. Mit kreischenden Kranich-schreien, die in die Stille der Nacht stießen, schoss sie darauf zu. Omeh, der plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde, sah den einsamen Vogel mit den weitgebreiteten Schwingen vor dem Himmel und stieß seinerseits einen lauten Vogelruf aus. »Ronata?«, schien seine Stimme zu fragen. Aber Nicole antwortete nicht. Sie wollte weiterfliegen, höher, bis über die Wolken hinaus.
    Hinter den Wolken standen klar und hell der Mond und die Sterne. Und sie winkten ihr einladend zu. Sie glaubte, aus der Ferne Musik zu hören, ein feines Klingeln von kristallenen Glöckchen, und sie stieg höher und höher. Sie versuchte mit den Flügeln zu schlagen. Die bewegten sich kaum. Sie hatten sich zu Kontrollflächen verwandelt, die jetzt ausfuhren, um den Auftrieb in der extrem dünnen Luft zu erhöhen. Ihre Heckraketen zündeten. Nicole war jetzt ein schlankes glattes Silber-Shuttle, das die Erde unter sich zurückließ.
    Im Orbit wurde die Musik lauter. Hier war es eine großartige Symphonie, die auf vollkommene Weise mit der majestätischen Erde unten harmonierte. Nicole hörte ihren Namen. Woher kam der Ruf? Wer konnte sie so weit draußen rufen? Der Klang kam von der Rückseite des Mondes. Sie änderte die Flugrichtung, zielte in die Leere des tiefen Weltraums und zündete die Triebwerke erneut. Sie rauschte am Mond vorbei, strebte von der Sonne weg. Ihre Fluggeschwindigkeit wuchs immer noch exponential weiter. Die Sonne in ihrem Rücken wurde kleiner und immer kleiner, ein winziger Lichtpunkt, und dann verschwand sie ganz. Ringsum war nur noch Schwarz... Sie tauchte mit dem Rest Atemluft an die Oberfläche des Wassers.
    Die Löwin strich am Teichrand auf und ab. Nicole konnte das ganze lebendige Spiel der Muskeln in den starken Schultern sehen, und sie verstand den Ausdruck in ihrem Gesicht. Bitte, lass mich doch in Ruhe , sagte Nicole. Ich werde dir und deinen Jungen bestimmt nichts tun.
    »Ich erkenne deinen Geruch wieder«, antwortete die Löwin. »Meine Kleinen haben mit diesem Geruch gespielt.« Aber ich bin doch auch ein Junges, sprach Nicole weiter, und auch ich will nur zu meiner Mutter zurück. Aber ich hab Angst.
    »Komm aus dem Wasser raus«, antwortete die Löwin. »Ich will dich anschauen. Ich glaube nicht, dass du bist, was du zu sein vorgibst.«
    Das kleine Mädchen nahm allen Mut zusammen, schaute der Löwin fest ins Gesicht und stieg langsam aus dem Wasser. Die Löwin blieb ganz still. Als ihr das Wasser nur bis zu den Hüften reichte, legte Nicole die Arme wie zu einer Wiege zusammen und begann zu singen. Es war eine schlichte, besänftigende Melodie, und sie erinnerte sich an sie aus den Anfängen ihres bewussten Lebens, als ihre Mutter oder ihr Vater ihr einen Gutenachtkuss gaben, sie in ihr Schaukelbettchen legten und dann das Licht löschten. Und die kleinen Tiere des Mobile schwebten im Kreis und drehten sich, und eine Frauenstimme sang das Wiegenlied von Brahms:... Schlaf nun selig und süß... schau im Traum s Paradies ...
    Die Löwin schaukelte auf den Hinterbeinen,

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