Rendezvous
»Nein, ich halte es nicht für fair, wenn ein Gentleman glaubt, bloß wegen eines Kusses hätte die Dame ihm ein Heiratsversprechen gegeben.«
Augusta lächelte erleichtert und zufrieden. Ich bin ja so froh, dass du meiner Meinung bist.«
»Wenn natürlich«, fuhr Claudia nachdenklich fort, »die beiden auch nur ein klein wenig über einen Kuss hinausgegangen sind, dann würde das ein gänzlich anderes Licht auf die gesamte Angelegenheit werfen.«
Augusta fühlte sich plötzlich elend. »Ach, wirklich?«
»Ja, ganz entschieden.« Claudia trank einen Schluck Tee, während sie über die Feinheiten der hypothetischen Situation nachdachte.
»Ganz entschieden. Falls die fragliche Dame auf ein solches Verhalten von seiten des Gentleman auch nur mit dem geringsten Entgegenkommen reagiert — das heißt, wenn sie beispielsweise weitere Intimitäten zulässt oder ihn in irgendeiner Form ermutigt...«
»Ja?« stachelte Augusta sie an, denn ihr graute die Richtung, die das Gespräch einzuschlagen schien.
»Dann würde ich es für durchaus fair halten, wenn der fragliche Gentleman davon ausgeht, dass die Dame seine Zuneigung tatsächlich erwidert. Dann hätte er allen Grund zu glauben, dass sie durch ein solches Vorgehen eine Verlobung besiegelt.«
»Ich verstehe.« Augusta starrte bedrückt auf den Roman, der auf ihrem Schoß lag. Plötzlich zogen vor ihren Augen Bilder davon auf, wie sie schändlich hingebungsvoll auf dem Fußboden seiner Bibliothek in Graystones Armen gelegen hatte. Sie konnte die Glut in ihren Wangen spüren und nur beten, dass ihre Cousine nichts davon bemerken und sich nicht dazu äußern würde. »Was ist, wenn der Gentleman in seinen Annäherungsversuchen etwas zu hitzig gewesen wäre?« wagte sie endlich, behutsam weiterzufragen. »Was ist, wenn er die Dame mehr oder weniger überredet, ihm Intimitäten zu gestatten, die zuzulassen sie ursprünglich niemals in Betracht gezogen hätte?«
»Eine Dame ist für ihren eigenen Ruf selbst verantwortlich., sagte Claudia mit einer selbstsicheren Überheblichkeit, die Augusta sehr an Tante Prudence erinnerte. »Sie muss immer die allergrößte Sorgfalt darauf verwenden, sich derart sittsam zu benehmen, dass es zu solchen unerfreulichen Situationen gar nicht erst kommt.«
Augusta rümpfte die Nase und sagte nichts dazu.
»Und wenn es sich bei dem fraglichen Herrn«, fuhr Claudia gewichtig fort, »etwa um einen Mann von ausgezeichneter Herkunft und einem makellosen Ruf handeln sollte, was Ehre und Sittenstrenge angeht, dann wäre der Fall natürlich nur um so klarer.«
»Ach, wirklich?«
»Oh, ja. Es wäre doch nur zu verständlich, wie er zu dem Glauben gelangt ist, gewisse Versprechen seien abgegeben worden. Und ein Gentleman von Rang und Würden, mit einem ausgeprägten Feingefühl, würde selbstverständlich erwarten, dass die Dame sich an ihr Versprechen hält. Ihre eigene Ehre würde es von ihr verlangen.«
»Das gehört zu den Dingen, die ich schon immer an dir bewundert habe, Claudia. Du bist vier ganze Jahre jünger als ich, aber du hast solche scharfsichtigen Vorstellungen davon, was sich gehört.« Augusta schlug ihren Roman auf und lächelte ihre Cousine gepresst an. »Sag mir eins: Findest du nicht manchmal, dass ein Leben, das sich ganz und gar diesen Anstandsregeln beugt, ein klein wenig langweilig sein könnte?«
Claudia lächelte liebevoll. »Das Leben ist kein bisschen langweilig gewesen, seit du zu uns gezogen bist, Augusta. In deiner Nähe scheint sich immer etwas Interessantes abzuspielen. Und jetzt habe ich dir eine Frage zu stellen.«
»Und die wäre?«
»Ich würde gern deine Meinung zu Peter Sheldrake hören.«
Augusta schaute erstaunt zu ihr auf. »Meine Meinung kennst du doch. Ich habe es schließlich arrangiert, dass er dir vorgestellt wird. Ich mag ihn sehr. Er erinnert mich an meinen Bruder Richard.«
»Gerade das bereitet mir Sorgen«, gestand Claudia. »Er hat wahrhaft eine gewisse leichtsinnige und sorglose Art an sich. Und in der letzten Zeit häufen sich die Aufmerksamkeiten, mit denen er mich überschüttet. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich ihn ermutigen sollte.«
»An Sheldrake ist nichts auszusetzen. Er ist der Erbe des Titels und der Würde eines Vicomte und zudem eines ansehnlichen Reichtums. Und was noch besser ist, er hat Sinn für Humor, was mehr ist, als ich über seinen Freund Graystone sagen könnte.«
5. Kapitel
»Ich glaube nicht, bereits erwähnt zu haben, dass ich in den Genuss des Privilegs
Weitere Kostenlose Bücher