Rendezvous
unwillkürlich weiterblättern, um zu erfahren, was als nächstes passiert.«
Claudia bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Meinst du nicht, nachdem du jetzt verlobt bist, solltest du etwas Erbaulicheres lesen? Vielleicht wäre eines von Mutters Büchern angemessener für eine Dame, die demnächst einen ernsthaften und gebildeten Mann heiraten wird. Du willst den Earl doch gewiss nicht mit uninformierter Konversation in Verlegenheit bringen.«
»Wenn du mich fragst, könnte Graystone uninformierte Konversation nur zu gut gebrauchen« murrte Augusta. »Der Mann ist viel zu sittenstreng und prüde. Weißt du, dass er mir allen Ernstes gesagt hat, ich sollte keinen Walzer mehr mit Lovejoy tanzen?«
»Hat er das wirklich getan?« Claudia setzte sich ihrer Cousine gegenüber und schenkte sich aus der Kanne auf dem Beistelltisch eine Tasse Tee ein.
»Er hat mir regelrecht befohlen, es nicht mehr zu tun.«
Claudia dachte darüber nach. »Vielleicht ist das gar kein so übler Rat. Lovejoy ist sehr attraktiv, das muss ich dir lassen, aber ich glaube einfach, ob ich will oder nicht, dass er sich nicht zu gut wäre, eine Dame auszunutzen, die ihm zu viele Freiheiten gestattet.«
Augusta hob den Blick zum Himmel und betete um Geduld. »Lovejoy ist äußerst umgänglich und durch und durch ein Gentleman.« Sie biss sich auf die Lippen. »Claudia, würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich dir eine heikle Frage stelle? Ich hätte gern einen Rat, was die guten Sitten angeht, und mir fällt, offen gestanden, niemand ein, der mir zu diesen Dingen klarere Auskünfte erteilen könnte als du.«
Claudia, deren Rücken ohnehin schon kerzengerade war, nahm eine noch aufrechtere Haltung ein und schien ernst und aufmerksam zu lauschen. »Ich werde mein Bestes versuchen, dir mit Rat und Tat beizustehen, Augusta. Was bedrückt dich?«
Augusta wünschte plötzlich, sie hätte nicht davon angefangen. Aber jetzt war es zu spät. Sie stürzte sich mit einem Kopfsprung in das Thema, das ihren Schlaf nach dem Ball gestern Abend so enorm beeinträchtigt hatte. »Glaubst du, es ist wahr, dass einem Gentleman das Recht zusteht, gewisse Versprechen daraus abzuleiten, dass eine Dame ihm erlaubt, sie zu küssen?«
Claudia zog die Stirn in Falten und dachte gründlich über diese Frage nach. »Offensichtlich sollte eine Dame niemand anderem als ihrem Verlobten oder ihrem Ehemann gestatten, sich solche Freiheiten herauszunehmen. Mutter hat das in ihren Verhaltensmaßregeln für junge Damen deutlich klargestellt.
»Ja, ich weiß« sagte Augusta, die allmählich ungeduldig wurde. »Aber lass uns den Fall einmal realistisch betrachten. Es kommt eben vor. Paare rauben draußen im Garten zwischendurch einen Kuss. Das wissen wir alle. Und solange sie die Diskretion wahren, hat niemand das Gefühl, sie müssten hinterher ihre Verlobung bekanntgeben.«
»Ich vermute, wir reden rein hypothetisch darüber?« sagte Claudia und bedachte sie plötzlich mit einem scharfen Blick.
»Ganz und gar.« Augusta winkte die Frage ungezwungen mit der Hand ab. »Die Frage ist bei einer Diskussion mit ein paar, äh, Freundinnen von mir bei Pompeia's angesprochen worden, und wir waren alle bemüht, zu einer angemessenen Schlussfolgerung zu gelangen, was in einer solchen Situation von einer Frau erwartet wird.«
»Es wäre zweifellos das beste, wenn du Abstand davon nehmen würdest, dich in Diskussionen dieser Art hineinziehen zu lassen, Augusta.«
Augusta biss die Zähne zusammen. »Zweifellos. Aber hast du eine Antwort auf diese Frage?«
»Nun, ich nehme an, man könnte sagen, es ist ein Beispiel für beklagenswertes Verhalten, einem Mann einen Kuss zu gestatten, aber es geht nicht unbedingt über die Grenzen des Erlaubten hinaus. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Dame mehr Gefühl für Sittsamkeit besessen hätte, aber für einen geraubten Kuss würde man sie nicht durch und durch verdammen. Zumindest täte ich das nicht.«
»Ja, genauso stehe ich dazu auch« sagte Augusta eifrig. »Und der dazugehörige Gentleman hat doch gewiss nicht das Recht zu glauben, die fragliche Dame hätte ihm die Ehe versprochen, bloß weil er ein solcher Lump war, ihr einen Kuss zu rauben.«
»Nun...«
»Ich bin weiß Gott oft genug während eines Balls in den Garten geschlendert und habe Herren und Damen gesehen, die einander umarmten. Und sie sind keineswegs alle in den Ballsaal zurückgeeilt und haben ihre Verlobung bekanntgegeben.«
Claudia nickte zögernd.
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