Renegade
zusammen. »Aber wenn sie uns erwartet hat, wo sind
sie dann alle? Sollte sie nicht versuchen, uns aufzuhalten?«
Ein gutes Argument.
Ich sehe mich um und lausche. Kein Laut. Nicht der kleinste Piep. Die Tür hat
aber so laut geknallt, dass es irgendjemandem aufgefallen sein muss .
»Du hast recht. Hier
stimmt etwas nicht.« Ich streiche mir verwirrt über die Augen und schmiere mir
so Blut ins Gesicht. »Okay, wir machen Folgendes: Erst mal müssen wir aus dem
Palasttrakt raus, hier ist es eindeutig zu gefährlich. Und dann brauchen wir
einen neuen Plan. Folge mir.«
Mutter weià also
bereits, was wir vorhatten, oder zumindest, dass Gavin versuchen würde, durch
diesen Fluchtweg zu entkommen. Ich muss uns also hier rausbringen, an einen
Ort, an dem sie uns nicht finden kann â denn jetzt geht es wirklich um uns
beide. Doch einen solchen Ort zu finden ist leichter gesagt als getan,
besonders da Gavin unverkennbar wie ein Oberflächenbewohner aussieht. Mein
Evakuierungsset enthält einen laminierten Lageplan Elysiums; ich hole die Karte
nun hastig aus dem Rucksack und studiere sie einen Moment lang.
»Was ist das?«, will
Gavin wissen.
»Eine Karte. Darauf
sind alle Evakuierungspunkte eingetragen, für den Fall eines Systemausfalls
oder eines Angriffs. Wenn wir irgendwo einen Fluchtweg finden, dann in der Nähe
dieser Punkte.«
»Eine Karte? Ist die
denn zuverlässig?«
»Natürlich, sie
dient schlieÃlich zur Notfall-Evakuierung. Mutter will nicht, dass ihre Bürger
sterben, und auf gar keinen Fall will sie, dass ich sterbe.«
Gavin scheint das
nicht zu überzeugen, aber er sagt nichts mehr.
»Also gut«, fahre
ich schlieÃlich fort. »So wie es aussieht, liegt der nächste Evakuierungspunkt
am GroÃen Platz in Sektor Zwei. Gehen wir dorthin.« Ich falte die Karte
zusammen, behalte sie aber in der Hand, um sie schnell konsultieren zu können,
falls ich einen anderen Weg finden oder die exakte Position bestimmen muss.
Wir stehlen uns
erfolgreich an der Wache vorbei, die so konzentriert auf ihren Holoscreen starrt,
dass sie uns gar nicht bemerkt. Doch für den Wachmann wären wir sowieso nicht
von Interesse gewesen, immerhin ist es seine Pflicht, die Leute am Betreten des
Traktes zu hindern, nicht am Verlassen.
Wieder halten wir
uns in den Schatten und vermeiden gröÃere Menschenansammlungen, doch diesmal
steuern wir direkt auf den GroÃen Platz zu. Durch das Freudenfest ist er noch
voller als sonst. Zwischen den bunt kostümierten Paaren fallen wir vielleicht
nicht ganz so schnell auf, wie ich befürchtet habe, aber ich bin immer noch die
allseits bekannte Tochter des Volkes, und auch Gavins zerrissene, schmutzige
Kleidung erregt schlieÃlich Aufsehen. Und je weiter wir in Sektor Zwei
vorankommen, umso dichter wird die Menschenmenge. Selbst am äuÃersten Rand des
GroÃen Platzes wird es immer schwieriger, sich unauffällig fortzubewegen. Noch
dazu gafft Gavin alles und jeden offen an, aber wenigstens hält er diesmal mit
mir Schritt, also sage ich nichts. Ich muss mich darauf konzentrieren, uns an
unser Ziel zu führen.
Als ich in der Menge
vor uns plötzlich drei Vollstreckerinnen entdecke, sind meine Nerven zum
ZerreiÃen gespannt, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Sie haben uns nicht
bemerkt, und an ihrer entspannten Haltung kann ich erkennen, dass sie nicht in
Alarmbereitschaft versetzt wurden, aber das hat nicht viel zu bedeuten. Wenn
ich sie sehen kann, können sie mich auch sehen. Wir müssen sehr, sehr
vorsichtig sein.
Ich ändere die
Richtung. Jetzt stehen direkt vor uns sechs Wachmänner, doch sie verwenden ihre
gesamte Energie darauf, mit ein paar jungen Frauen zu flirten, und sind deshalb
unaufmerksam. Wir haben also die Wahl zwischen ihnen und den Vollstreckerinnen.
Ich entscheide mich für die Männer und steuere mit Gavin auf sie zu; dabei sehe
ich immer wieder verstohlen auf der Karte nach, wo wir uns befinden und wie
weit es noch bis zum Evakuierungspunkt ist. Anscheinend liegt er mitten auf dem
Platz.
Als wir die Stelle
erreichen, die auf der Karte verzeichnet ist, bin ich verwirrt. Das kann nicht
stimmen â denn das Gebäude, das genau vor mir liegt, ist ein kleines
Varieté-Theater. Hier haben nur Verpaarte und ihre Familien Zutritt, allerdings
war ich ein paar Mal mit Mutter dort, als wir uns ein Abendessen mit Showeinlagen
gönnen wollten.
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