Renegade
Doch beim besten Willen erinnere ich mich nicht an einen
Fluchtweg im Zuschauerraum. Vielleicht gibt es dort ja eine Art Hinterzimmer,
in dem er sich befindet.
Da ich so schnell
wie möglich Distanz zwischen uns und die Vollstreckerinnen und Wachen bringen
will, bewege ich mich zügig auf das Gebäude zu, dicht gefolgt von Gavin. Von
drinnen tönt uns Musik entgegen â sicher Teil des abendlichen
Unterhaltungsprogramms â, doch zum Glück ist kein Publikum anwesend â für die
Dinnergäste ist es wohl noch zu früh. In der Hoffnung, dass uns auch sonst
niemand entdeckt, trete ich ein. Mein Herz rast, aber ich tue so, als hätte ich
jedes Recht, hier zu sein, und wandere unschlüssig zwischen den Tischen zur
Bühne, bis ich endlich ein Indiz finde: eine Wand, die unauffällig mit einer
groÃen Stoffbahn verhängt ist. Hinter dem Vorhang verbirgt sich eine schmale
Tür. Ich öffne sie und entdecke dahinter eine dunkle Treppe, die nach oben
führt.
Als Gavin die Tür
hinter uns schlieÃt, klingen nur noch gedämpfte Bässe aus dem Zuschauerraum zu
uns herein. Am oberen Ende der Treppe angekommen, wird die Musik wieder lauter,
und wir gehen einen unbeleuchteten Korridor entlang. Die einzige Lichtquelle
ist ein Spalt in der Wand. Neugierig untersuche ich die Stelle und entdecke
einen zweiten Vorhang. Als ich ihn zurückschlage, weià ich plötzlich, wo wir
sind: Vor mir hängt ein goldenes Ziergitter, das über der Bar angebracht ist.
Ich lasse den Vorhang zurückfallen und will weitergehen, trete dabei aber aus
Versehen gegen einen kleinen Gegenstand, der mit einem metallischen Klimpern an
der Wand landet. Ich hebe ihn auf und untersuche ihn in dem gedämpften Licht,
das durch den Vorhangspalt dringt.
Als ich erkenne, um
was es sich handelt, gefriert mir das Blut in den Adern: eine Patronenhülse.
Offenbar sind wir hier in einem Geheimgang der Vollstreckerinnen gelandet, von
dem aus sie die Theatergänger überwachen. Ein schneller Blick an die Wand
beweist mir, dass ich recht habe, denn dort hängt eine kleine Tafel mit einem
der Statuten, die Mutter für die Vollstreckerinnen erlassen hat. Wenn ich
weitersuchen würde, könnte ich wahrscheinlich noch mehr von ihnen finden.
»Von hier müssen wir
sofort verschwinden«, erkläre ich Gavin.
» Du hast uns doch hierhergeführt«, erwidert er mit einem angespannten Lachen.
»Ich weiÃ.« Wir
erreichen das Ende des Korridors, an dem es wieder eine Tür gibt: Sie führt zu
einer weiteren Treppe, deren Stufen uns hinab in einen Raum mit Hinterausgang
bringen â der mit ziemlicher Sicherheit den Zugang zum Fluchtweg darstellt,
denn er ist durch einige groÃe Kisten versperrt. Ich versuche eine davon
wegzuschieben, erkenne aber, dass sie mindestens fünfzig Kilo wiegen muss.
Während ich noch überlege, ob ich das schaffen kann, hebt Gavin die Kiste auf
und stellt sie beiseite. Beeindruckt sehe ich zu, wie er auch den Rest umräumt;
innerhalb einer Minute ist der Weg frei.
Ich öffne die Tür.
Mit einem lauten Quietschen dreht sie sich in den Angeln, und ich stoÃe den
Atem aus, den ich unbewusst angehalten habe. Vor mir tut sich nicht wie
erwartet ein Tunnel auf, sondern lediglich ein neuer Blick auf den GroÃen
Platz. Wir stehen an der Rückseite des Gebäudes.
Gavin späht über
meine Schulter. »Ãh ⦠vielleicht irre ich mich ja, aber das sieht irgendwie
nicht aus wie ein Fluchttunnel.«
Mit einem giftigen
Blick schlieÃe ich die Tür wieder und hoffe dabei inständig, dass ihr lautes
Quietschen unbemerkt bleibt. »Was jetzt?«, murmele ich vor mich hin und sehe
mir den Rest des Raumes genauer an. In einer Ecke ist die Beleuchtung
ausgefallen, und offenbar war schon längere Zeit niemand mehr hier. Sowohl die
Kisten als auch der Boden sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt, in der
wir nun unsere Spuren hinterlassen, als wir zu der dunklen Ecke hinübergehen.
Im Vergleich zu Gavins sind meine FuÃabdrücke winzig. Aber er ist ja auch
ziemlich groÃ. Selbst jetzt, wo ich die hohen Stiefel trage, überragt er mich
um mindestens fünfzehn Zentimeter.
Da mir nichts
Besseres einfällt, setze ich mich auf den Boden und wühle in meinem Rucksack;
vielleicht kommt mir ja auf diesem Wege eine bahnbrechende Erkenntnis. Ich
verstehe nicht, warum Mutters Karte falsch ist, doch mich beschleicht das
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