Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Ausführungen.
„Woher kam das? Gab es Probleme im Elternhaus?”
„Kennen Sie seine Eltern denn noch nicht?”
„Sie weichen aus. Bitte sagen Sie mir alles, was Sie über seine häuslichen Verhältnisse wissen.”
„Nichts, was helfen könnte. Nur Gerede der anderen Eltern, Gerüchte …”
Der Rektor straffte sich. Für einen Moment ruhte sein Blick auf ihr, dann wanderte er unruhig weiter bis zum Bücherschrank, der die Schmalseite des kleinen Büros einnahm. Helga vermochte nicht zu entscheiden, ob er sie zum Weitersprechen oder zur Zurückhaltung hatte auffordern wollen.
„Was sind das für Gerüchte?”
„Na ja, allgemeines Getratsche über das Elternhaus.” Sie schluckte und verfluchte wieder einmal ihre mangelnde Souveränität. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass Bennis Erziehung so chaotisch gewesen war.
„Frau Renner, die kleine Sandra war in Ihrer Klasse, und Sie wissen, dass wir kaum Anhaltspunkte haben, also sagen Sie mir schon, was Sie gehört haben – oder vermuten.”
„Es fällt mir schwer, unbewiesenen Klatsch so einfach weiterzugeben. Sie wissen wahrscheinlich schon, dass seine Eltern geschieden sind und der Vater nur selten und unregelmäßig auftauchte?” Fragend blickte die Lehrerin den Kriminalbeamten an, der keine Miene verzog. Dann fuhr sie stockend fort. „Jedenfalls wird erzählt, dass die Mutter keinerlei Gewalt mehr über ihren Sohn besaß, dass er schon häufiger Zigarettenautomaten aufgebrochen und Skateboards und Fahrräder seiner Mitschüler geklaut haben soll – solche Geschichten eben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen das weiterhelfen könnte.”
„Ich im Moment auch nicht, aber wer weiß … Mit wem war er befreundet, wer könnte uns etwas über seine Gewohnheiten erzählen?”
„Schwer zu sagen. Er hatte, soweit ich weiß, keinen echten Freund wie andere Kinder. Es gab einige wenige, mit denen er häufiger spielte, meistens versuchte er, bei den Größeren aus den vierten Schuljahren anzukommen. Fragen Sie Frau Stellmann, die müsste es genauer wissen. Sie erreichen sie bestimmt zu Hause. Ich bin nur vier Stunden pro Woche in der Klasse. – Was sagt denn seine Mutter?”
„Mit der konnten wir noch nicht sprechen. Sie ist völlig geschockt und hat eine Beruhigungsspritze bekommen. Ich hoffe sehr, dass sie uns heute Nachmittag was erzählen kann.”
„Und der Vater? Haben Sie den schon getroffen?”
„Noch nicht. Auch nicht den derzeitigen Partner der Mutter.” Kersting erhob sich. „Da ich schon einmal hier bin, könnte ich mich vielleicht mit den Klassenkameraden unterhalten, falls die noch da sind?”
Der Rektor warf einen schnellen Blick auf den Gesamtstundenplan, der einen Großteil der Wand seinem Schreibtisch gegenüber einnahm. „Die 3b hat jetzt Sportunterricht bei Frau Steinhofer.” Er zögerte. „Sie wissen, dass Sie die Kinder nur mit dem Einverständnis der Eltern vernehmen dürfen?”
„Selbstverständlich. Ich will sie ja auch gar nicht vernehmen, ich werde ihnen nicht einmal erzählen, was mit Benjamin passiert ist, wenn Sie das nicht wünschen. Ich möchte die Kinder nur fragen, ob sie wissen, wer des Öfteren mit dem Jungen gespielt hat und wo.” Er überlegte einen Moment, schaute zum Fenster – draußen wurde es wieder heller, der Hagel ließ nach – dann wieder auf den Rektor. „Ich will mir nur einen ersten Eindruck verschaffen. Später werde ich Benjamins Freunde in Anwesenheit der Eltern noch einmal gründlich befragen, einverstanden?”
„Ja nun, also … also gut, aber Sie bleiben dabei, Frau Renner.”
Er konnte nicht erkennen, was die Lehrerin von dem Kompromiss ihres Chefs hielt. Sie warf einen Blick auf die große Uhr über der Tür. „Wir müssen noch zehn Minuten warten, bis der Sportunterricht zu Ende ist. Sie können mit den Kindern sprechen, bevor sie in die Umkleideräume stürzen. Anschließend haben sie nämlich Schulschluss und sind nicht mehr zu halten.”
„Gut, einverstanden.”
„Kommen Sie, ich bringe Sie zur Turnhalle.”
Im Flur und am Hauptportal warteten Mütter auf ihre Kinder, stumm und mit angstgeweiteten Augen. Der Schock steckte ihnen tief in den Gliedern. So war es auch nach Sandras Tod gewesen. Helga hatte Frauen getroffen, die noch nie zuvor einen Fuß über die Schwelle der Schule gesetzt hatten. Doch das Entsetzen fegte alle Hemmungen und alle Gleichgültigkeit beiseite. Jedoch nicht für lange. Der Mensch hält Furcht und Schrecken nur begrenzte Zeit
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