Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Persönlichkeit, fragte sie sich wehmütig und beschloss bei sich, falls nicht innerhalb der nächsten Woche ein Mann in ihrem Leben auftauchen sollte, den näher kennen zu lernen sich lohnte, es mit einer Annonce zu versuchen. So ging es jedenfalls nicht weiter. Automatisch warf sie einen Blick auf die Kirchturmuhr, der sie ihre Schritte beschleunigen ließ.
Sie wohnte in einem der schöneren Viertel dieser Stadt mit alten, renovierten Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende. Helga liebte die Stuckgirlanden über den Fenstern, die Säulen neben den Türen und die vorstehenden Erker. Zu jedem Haus gehörte ein winziger Vorgarten mit dichtem Strauchwerk. Nur wenige Straßen weiter, begannen sich bereits graue Mietskasernen unter die farbenfrohen, renovierten Gebäude zu mischen. Dort waren die Mieten günstig und kaum jemand regte sich auf, wenn Kinder im Treppenhaus tobten. Die Kleinen befreundeten sich schnell und schufen auf diese Weise Kontakte zu Nachbarn, mit denen man sonst kein Wort gesprochen hätte. Manche Bewohner kannten einander schon seit Jahren. In den Kiosken bekam man nicht nur Zeitschriften, sondern auch den neuesten Klatsch zu hören. Vor vier Wochen hatte die Verwaltung der Stadt versucht, das Grau etwas aufzulockern und einen Teil der wenigen vorhandenen Parkplätze mit Blumenkübeln zugestellt. Zwischen Glasscherben und Pappschachteln mühten sich Tulpen und Osterglocken ab, einen Sonnenstrahl zu erhaschen. Niemand schien sich an dem Müll, der auf den Gehwegen lag, zu stören. Und darum, überlegte Helga, die sich bei dem Anblick jedes Mal schüttelte, war es kein Wunder, dass sie es nicht schaffte, ihren Schülern die Grundgedanken des Umweltschutzes nahe zu bringen.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie zum Himmel. Dunkle, zerfranste Wolken sammelten sich zu einem nassen Angriff. Inständig betete sie um Aufschub. Sie hasste die Pausen, in denen die Kinder nicht nach draußen auf den Schulhof konnten, um sich auszutoben. Dann gaben sie ihrem Drang nach Bewegung während des Unterrichts nach, und der Vormittag entwickelte sich für Schüler und Lehrer zur Tortur.
2
Kurz nach Ende der fünften Stunde lehnte Helga am Pult der zweiten Klasse und blickte auf ihre ganz speziellen Schätzchen, die noch immer nicht mit dem Abschreiben der Aufgaben fertig waren. Die meisten Kinder hatten den Raum längst verlassen und befanden sich auf dem Heimweg, aber es gab immer ein paar Nachzügler, die etwas länger brauchten. Verärgert bemerkte sie, dass Thomas und Florian ihre Stühle wieder nicht hochgestellt hatten und unter Mehtaps Tisch ein Haufen Papierschnipsel lag, der eindeutig bezeugte, dass seine Produzentin während der letzten Stunde alles andere als aufmerksam gewesen war. Sie bückte sich, um einen vergessenen Füller, einen halben Radiergummi, einen Apfel und zwei Filzstifte aufzuheben und beiseite zu legen. Robin hatte sein Mathematikbuch auf dem Tisch liegen lassen, und seine Lehrerin fragte sich, ob und wie er seine Hausaufgaben zu erledigen gedachte. Da wurde die Tür aufgerissen, und die Konrektorin Elli Goppel stürzte herein. „Ich brauche unbedingt deine Verlängerungsschnur, unsere Schnecke hat meine Steckdose noch immer nicht repariert, und ich muss mir den Strom für den Diaprojektor aus der Nachbarklasse holen, es ist zum Kotzen!”
Während sie weiter über den Hausmeister schimpfte, raffte sie hastig die Schnur zusammen, die ziemlich verdreht auf der Fensterbank lag. Helga beneidete Elli um ihr Klassenzimmer. Dort hingen die Vorhänge dicht genug, um den Raum für Diaprojektionen abzudunkeln. In ihrer Klasse ein Ding der Unmöglichkeit. Ein einziges Mal hatte sie es riskiert, die Überreste ehemaliger Gardinen zuzuziehen. Doch nachdem sie dabei von reißendem Stoff in eine Staubwolke gehüllt worden war, hatte sie jeden weiteren Versuch aufgegeben.
„Wenn dieser Schildkrötenverschnitt nicht bald zu arbeiten anfängt, mache ich Leberwurst aus ihm.” Ellis Ausbrüche heiterten regelmäßig Pausen und Konferenzen auf. Sie besaß ein explosives Temperament und hielt es nur selten für nötig, dieses zu zügeln und sich zu beherrschen. Wenn ihr etwas nicht passte, bekam es jeder zu hören. Und zur Zeit hatte sie es auf den Hausmeister der Schule abgesehen, der ihrer Meinung nach entschieden zu langsam arbeitete und dem Prinzip der Vertagung huldigte, frei nach dem Motto: Was du heute kannst besorgen, verschieb’ getrost auf morgen.
„Danke! Ich muss laufen, kann
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