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Renner & Kersting 02 - Mordswut

Renner & Kersting 02 - Mordswut

Titel: Renner & Kersting 02 - Mordswut
Autoren: Angelika Schroeder
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Gegenfahrbahn. Sie hatte Glück, dass sie gerade noch rechtzeitig ihre Hände hochreißen und vor die Augen halten konnte, sonst hätte sie all die Narben im Gesicht.«
    Kersting erinnerte sich an die Frau mit den weißen dünnen Handschuhen, die in einer Arztpraxis gar nicht auffielen. „Josef hat ihr eine Schönheits-OP bezahlt, um wenigstens das Gesicht soweit wieder in Ordnung bringen zu lassen, dass man sie problemlos ansehen kann. Und das, obwohl er sie nur flüchtig vom Krankenhaus her kannte. Sie hat ihm einfach Leid getan. Ihren Beruf als Krankenschwester musste sie aufgeben, weil die Finger nicht mehr beweglich genug waren, um Verbände zu wickeln und Spritzen zu geben. In so einem Betrieb muss immer alles schnell schnell gehen. Da gibt es keine Rücksichtnahme. Wer nicht mithalten kann, fliegt. Deshalb hat Josef sie dann eingestellt – und er war sehr zufrieden mit ihr. So war mein Bruder. Er meinte immer, Hauptsache, das zwischenmenschliche Klima stimmt, alles andere lässt sich regeln.« Sie lächelte traurig, während sich eine Träne aus dem Augenwinkel löste und langsam über die Wange rann. Anja Better machte keine Anstalten, sie fortzuwischen. „Können Sie sich vorstellen, dass so ein Mensch Böses tun kann? Selbst seiner Exfrau gegenüber war er großzügig und verzichtete freiwillig auf die Besuche seiner Tochter, weil er nicht wollte, dass das Mädchen zwischen ihnen aufgerieben wird. Seine Ex muss ihn furchtbar schlecht gemacht haben, denn als uns das Mädchen nach der Scheidung besuchte, schien es völlig verstört. Ich war dabei und bekam kein vernünftiges Wort aus dem Kind heraus. Er holte sie dann noch ein-oder zweimal, dann war Schluss. Seitdem schrieb er Briefe, zu jedem Geburtstag, zu jedem Fest, wann immer ihm etwas einfiel. Anfangs schickte er die Briefe noch ab, doch sie kamen ungeöffnet zurück. Seitdem bewahrte er sie auf, um sie ihr an ihrem achtzehnten Geburtstag zu geben. Haben Sie jemals einen Vater mit mehr Verständnis gesehen? Wer verzichtet schon freiwillig auf sein eigen Fleisch und Blut, nur weil die Mutter das wünscht? Nein, mein Bruder konnte niemandem Schaden zufügen.«
    „Er war Arzt. Gab es vielleicht unzufriedene Patienten?«
    „Das müssten Sie seine Helferinnen fragen, aber ich nehme an, dass Sie das bereits getan und die gleiche Antwort erhalten haben, die ich Ihnen gebe: Nein, niemals. Wenn er nicht helfen konnte, schickte er die Patienten weiter zum Spezialisten. Er gehörte nicht zu jenen Halbgöttern, die sich weigern, Nichtwissen zuzugeben. Er wollte für jeden nur das Beste.« Wieder rollten die Tränen. Er wartete einen Moment, bis sie ein Taschentuch hervorgekramt und sich gefasst hatte. In dem alten Ohrensessel, der vermutlich noch von ihren Großeltern stammte, wirkte sie irgendwie verloren.
    „Seine Verlobte kennen Sie sicher auch?«
    „Natürlich. Sie passten so gut zusammen, Andrea besitzt das gleiche Verständnis für ihre Mitmenschen wie Josef. Wenn sie von den Kindern in der Schule erzählte, dann voller Mitgefühl. Ich hatte den Eindruck, als ginge ihr jedes einzelne Schicksal nahe. Sie tat so vieles, was nicht zu ihrem Job gehörte, sorgte für Nachhilfe und Hausaufgabenhilfe, besuchte sogar Schüler daheim, wenn die Mütter nicht in die Schule kommen wollten, und einmal ist sie sogar mittags zu einer Mutter gegangen, um zu schauen, ob die auch Essen für ihren Sohn vorbereitet hatte. Als Andrea die Geschichte erzählte, war sie fix und fertig, so Leid tat ihr der Junge. Stellen Sie sich vor, diese Schlampe lief mittags immer noch im Morgenrock rum, und statt eines Essens standen mehrere Bierflaschen auf dem Tisch. Natürlich hat Andrea die Sache dem Jugendamt gemeldet, aber keine Stadt kann so viele Sozialarbeiter bezahlen wie eigentlich gebraucht werden. Und als ich sie mal gefragt habe, warum sie sich so viel zusätzliche Arbeit mache, hat sie nur gelacht und gesagt, sie tue es für die Kinder, die verdienten eine Chance.«
    Kersting schüttelte unbewusst den Kopf. Ihm fielen seine vielen Gespräche mit Helga ein über sozial benachteiligte Familien, mit denen sie beide immer wieder zu tun hatten. Helga war eine sehr engagierte Lehrerin, und auch er nahm seinen Beruf ernst. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb achteten sie auf professionelle Distanz, wie es jeder tun sollte, der mit vielen unterschiedlichen Schicksalen in Kontakt gerät. Kein Polizist, kein Lehrer darf sich zu sehr in einen Fall hineinziehen und vom Mitleid
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