Renner & Kersting 02 - Mordswut
schon zu spät. Und heute bin ich auch noch nicht dazu gekommen. Du weißt doch, was hier los ist.«
Kopfschüttelnd blickte Jürgen Masowski seinen Kollegen an. Da stimmte doch etwas nicht. Die Uhrzeit hatte Kersting noch nie davon abgehalten, seine Freundin anzurufen, um noch ein spätes Souper oder ein frühes Frühstück einzunehmen. Er beneidete den Kollegen um diese Frau. Sein Ehegespons wartete nicht auf ihn, wenn er spät heimkam. Sie sagte zwar nichts zu seinen Arbeitszeiten, doch hin und wieder ließ sie ihn schon spüren, dass es sie belastete. Vor allem wegen des Jungen, den er viel zu selten sah. Wie konnte Kersting eine Frau, die bereit war, nachts um zwölf aufzustehen und Bratkartoffeln und Spiegeleier in die Pfanne zu hauen, im Stich lassen? Und dazu würde es kommen. Er kannte den Kollegen schließlich lange genug, um die Anzeichen deuten zu können. Aber es war nicht seine Aufgabe, dem die Meinung zu sagen. Kersting hielt Beruf und Privatleben streng getrennt und konnte es nicht gut leiden, auf private Belange hin angesprochen zu werden. Manchmal gestaltete das die Zusammenarbeit ganz schön schwierig, überlegte Masowski. Andererseits konnte der Kollege sehr verständnisvoll sein, wenn er, Masowski, freie Zeit brauchte, um mit der Lehrerin seines Sohnes zu reden oder beim Fußball zuzuschauen. Nun, ihn ging die Geschichte nichts an.
„Soll ich morgen früh mal in die Schule? Kollegen wissen manchmal mehr, als man selber glaubt. Immerhin verbrachte sie viele Stunden mit ihnen.«
„Gute Idee, mach das.«
Wieder stutzte Masowski. Dass Kersting eine Gelegenheit ausließ, seine Freundin zu treffen, war auch neu.
„Wie wäre es mit einem Kaffee, bevor wir fahren? Krankenhausplörre mag ich nicht, und eine kleine Aufmunterung fürs Gehirn täte uns beiden gut.«
Kersting knurrte Unverständliches. Der Kaffee seines Kollegen war im Präsidium berühmt-berüchtigt. Meist blieb der Löffel darin stehen. Doch Kersting war alles recht, um Masowski von seinen Überlegungen, was wohl zwischen ihm und Helga sein mochte, abzubringen.
10
Nach ihrem Besuch blieb Helga noch etwas Zeit, bis die Helferinnen die Praxis verlassen würden. Sie entschied sich, solange nach Hause zu fahren. Sie musste noch einiges für die Schule vorbereiten, und dann wollte sie auch einen Plan entwerfen, wen sie unter welchem Vorwand ausfragen könnte. Als sie sich an den Schreibtisch setzte und statt ihre Tasche auszupacken das Telefon anstarrte, erkannte sie den eigentlichen Grund für ihre Sehnsucht nach daheim. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie benahm sich wie eine frisch verliebte, dumme Gans. Obwohl der Verstand ihr deutlich sagte, dass man nichts erzwingen kann, ertappte sie sich dabei, wie sie immer wieder zum Telefon blickte, als könnte sie es dadurch zum Klingeln bringen.
Gerade hatte sie das letzte Schreibheft mit schlampig erledigten Hausaufgaben vor sich und formulierte in Gedanken den passenden Kommentar, da wurde ihr Wunsch erfüllt. Der erste Ton war noch nicht verklungen, als sie auch schon den Hörer in der Hand hielt.
„Frau Renner? Ich bin’s, Frau Zenker. Ich muss Ihnen etwas sagen. Meine Tochter ...« Dann hörte Helga nur noch Schluchzen. Nele Zenker ging in ihre Klasse. Ein nicht sehr intelligentes, aber liebes Mädchen. Sie hatte eine Ehrenrunde gedreht und steckte bereits in der Vorpubertät. Außer Jungen interessierte sie derzeit gar nichts. Ihr ständiges Kichern im Unterricht nervte Helga so sehr, dass sie das Mädchen schon häufiger hart angefahren hatte.
„Nun beruhigen Sie sich erst einmal! Hatte Nele einen Unfall?«
„Nein, es ist ... sie hatte ... sie wurde vergewaltigt.« Nachdem sie das schreckliche Wort herausgebracht hatte, wurde ihr Weinen lauter. Helga erstarrte. Das Mädchen war elf Jahre alt.
„Bitte, Frau Zenker, erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.« Mit ruhiger Stimme sprach Helga auf die Frau ein, bis diese sich soweit beruhigt hatte, dass sie berichten konnte. „Heute Mittag, auf dem Heimweg, haben ein paar große Schüler sie festgehalten, und dann hat einer ... er hat ... verdammt, der Bengel ist vierzehn. Zwei haben sie festgehalten, während er ...«
„Sie waren hoffentlich beim Arzt und bei der Polizei?«
Die sachliche Frage stabilisierte Frau Zenker so, dass sie weiter erzählen konnte. „Natürlich. Sie haben festgestellt, dass es tatsächlich ... dass es ... es zur Penetration gekommen ist. Meine kleine Nele ... und dann dieser ... dieser
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