Renner & Kersting 02 - Mordswut
Schmerz. Mein Sohn ist sehr hübsch. Blonde Locken, blaue Augen, ein kindlich pausbäckiges Gesicht. Diese Schönheit wollte er mit dem Schmerz paaren. Er hat Jan gequält, immer und immer wieder und fotografiert. Jedes Mal wenn ich nicht da war. Und Kowenius hat’s geahnt und nie etwas gesagt. Erst als ich misstrauisch wurde wegen der vielen blauen Flecke, der komischen Wunden ... ich meine, ich habe es nicht gewusst, nicht wirklich, er war schließlich mein Mann, den ich liebte, und der Verdacht, der war so ungeheuerlich, dass ich es nicht glauben konnte, ich wusste doch nicht, was ich denken sollte, jedenfalls habe ich ihn als ... als langjährigen, vertrauten Hausarzt gefragt, was er davon hielt, und da sagte der Kerl tatsächlich, er hätte sich ähnliches schon gedacht. Er wusste es, er muss es gewusst haben. Er hat Jan die ganze Zeit gesehen und behandelt und sagt nichts. Das hat doch nichts mit Schweigepflicht zu tun! Was hätte ich meinem Sohn ersparen können, wenn ... wenn der Kerl eher geredet hätte!« Sie rauchte mit kurzen hastigen Zügen. Ali blickte sich um, stand auf und fand mit sicherem Griff den Aschenbecher auf der Fensterbank, halb versteckt zwischen Blumentöpfen.
„Ihr Sohn hat nie etwas gesagt?«
„Nein. Sie wissen doch, wie so etwas abläuft ... das große
Geheimnis zwischen Vater und Sohn. Der ... der hat Jan versprochen, dass er berühmt wird, wenn er auf dem Foto das richtige Gesicht macht. Natürlich musste ein bisschen nachgeholfen werden, mit brennender Zigarette, und ich weiß nicht, was noch. Und der Arzt ahnt es und sagt nichts.« Sie schüttelte langsam den Kopf, die Besucherinnen wagten nicht zu fragen. Es dauerte lange, bis sie weiter sprach. „Dieser Perversling behauptet auch noch, nichts Schlimmes getan zu haben – nur weil er Jan nicht sexuell missbraucht hat. Ich kenne die Einzelheiten nicht, und ich bin fast froh darüber. Der Junge sagt mir nichts, und der ... der auch nicht. Wir sind im Streit auseinander. Er meinte, mit seinem Sohn könne er tun was er wolle, außerdem wäre Jan einverstanden gewesen. Vielleicht ... vielleicht hat er nicht einmal unrecht. Jan war traurig als wir auszogen, weil er jetzt nicht berühmt wird. Kann man sich so etwas vorstellen? Das ist doch krank, so etwas zu denken. Was hat der nur mit dem Kind gemacht?«
„Sie haben die Konsequenzen gezogen, das ist viel wert. Es gibt Mütter, die tun gar nichts. Natürlich braucht Ihr Sohn Zeit. Er muss Normalität erst wieder lernen. Gemeinsam werden Sie es schaffen.«
„So was Ähnliches hat der Psychologe auch gesagt.«
Ali wollte den Redefluss nicht unterbrechen, aber es fiel ihr sichtlich schwer, ihr Temperament in Zaum zu halten.
In sich zusammengesunken hockte die Panowitsch auf dem Sofa, ohne jede Energie, kaputt wie der Luftballon nach dem Knall. Sie musste ihr Leben erst wieder aufbauen und ganz neu gestalten. So schnell würde sie wohl keinem Mann mehr vertrauen. Da kam es auch schon, hasserfüllt: „Männer sind doch Bestien. Wie kann ein Vater so brutal zu seinem kleinen Jungen sein? Und ein anderer weiß oder ahnt es und schweigt. Solche Typen verdienen doch nicht den Namen Mensch, oder? Kein Tier würde seinen Jungen so etwas zufügen. Männer sind Monster.«
Das war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um über Verallgemeinerungen zu sprechen, dachte Helga. Außerdem war ihre derzeitige Meinung über Männer nur wenig besser. Auch Ali nickte. Die wortlose Zustimmung der beiden Frauen schien der Panowitsch gut zu tun. Sie holte tief Luft und beruhigte sich sichtlich. „Davon schreiben Sie aber nichts in Ihre Fragebögen, nicht wahr? Außerdem ist der Kerl ja tot. Dem kann keiner mehr was anhaben.« Pause. „Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Einer Mutter verschweigen, was ihrem Kind angetan wird, das ist ebenso schlimm wie ein Kunstfehler.« Jetzt sprach sie so leise, dass Ali und Helga sich vorbeugen mussten, um sie zu verstehen. „Wenn ich aber Freude über einen gewaltsamen Tod verspüre, stelle ich mich dann nicht auf eine Stufe mit Bestien und Monstern? Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken, was ich fühlen soll. In mir ist alles leer.« Sie saß vornüber gebeugt, stützte den Kopf auf die Hände, lautlos rollten die Tränen. Helga erhob sich geräuschlos, auch Ali stand leise auf. Sanft drückten sie die Tür hinter sich ins Schloss. Draußen holten beide erst einmal tief Luft.
„Ist das möglich?!«, rief Ali und
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