Reptilia
Vorlesung warteten, war der Raum leer. Am letzten Tisch direkt neben der großen Fensterfront saß Sarah und schickte mir einen vorwurfsvollen Blick entgegen. Mein Herz machte einen Sprung, als ich sie sah. Sarah war nicht unbedingt eine Schönheit, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Manchem mochte ihre Nase zu stupsig und ihr Mund zu groß sein. Doch ihre wundervollen grünen Augen, die alles und jeden zu durchschauen schienen, ihre helle Haut und die Sommersprossen, die ihre irische Herkunft verrieten, machten das mehr als wett. Am stärksten aber beeindruckte mich ihr unerschütterlicher Optimismus. Sie schien in tiefem Einklang mit sich und der Welt zu leben, eine Eigenschaft, die mir völlig fehlte. Die Natur war für sie voller ungelöster Fragen. Sie glaubte fest daran, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als wir uns in unseren Studierstuben träumen ließen.
Merkwürdigerweise erfüllte sie das mit großer Freude und Zuversicht.
Sie hatte die Haare hochgesteckt und trug einen engen weißen Rollkragenpullover, der ihre weibliche Figur betonte. Wie sie so dasaß, hätte man auf die Idee kommen können, dass sie ein romantisches Tête-à-Tête erwartete. Doch weder war ich der geeignete Kandidat dafür, noch bot die Cafeteria das passende Ambiente. Vielleicht wollte sie mir einfach zu verstehen geben, was ich verpasste, wenn ich sie verließ.
»Hallo, Sarah«, sagte ich, während ich den tropfnassen Mantel auszog. »Vielen Dank, dass du so schnell gekommen bist. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet.«
»Ich wollte eigentlich nur wissen, warum du mir in letzter Zeit ständig ausweichst. Keinen meiner Anrufe hast du beantwortet, meine Mails schon gar nicht. An der Uni habe ich dich kaum noch gesehen. Als hätte dich der Erdboden verschluckt.«
Ich seufzte. Sarah hatte allen Grund, sauer auf mich zu sein. Ich empfand zwar immer noch viel für sie, aber irgendwie wollte ein innerer Mechanismus nicht, dass wir beide glücklich miteinander wurden. Kam sie mir zu nah, wich ich zurück. Rückte sie nach, ging ich noch weiter auf Distanz. Naiv wie ich war, hatte ich zwar gehofft, Sarah würde das nicht merken, hatte gehofft, wir könnten gute Freunde bleiben und so weiter. Ein Plan, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Dafür, dass wir seit beinahe drei Wochen das erste Mal wieder miteinander sprachen, hielten wir uns beachtlich gut.
»Ich weiß, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe«, gab ich zu. »Wenn du möchtest, kannst du mir gern eine scheuern.«
»Das brauche ich gar nicht«, sagte sie. »Du bestrafst dich schon selbst genug.«
»Hm?«
»Siehst du, das ist unser Problem. Du hörst mir nie richtig zu. Ich liebe dich, David, aber du versteckst dich vor der Welt da draußen. Und vor mir. Jedes Mal, wenn ich versuche, dich aus deinem Eremitendasein herauszuholen, verkriechst du dich noch tiefer. Warum nur hast du so eine verdammte Angst vor dem Leben?«
»Ich bin nicht wie du«, sagte ich halbherzig. »Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass ich die Erwartungen meines Vaters nie erfüllen konnte. Keine Ahnung. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. In mir drin ist ein einziges Durcheinander. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit diesen Gefühlen umgehen soll.«
»Liebst du mich?«
Ich hob den Kopf. »Ich empfinde viel für dich, wenn du das meinst.«
»Beantworte doch einfach meine Frage.«
Mir brach der Schweiß aus. Es hatte keinen Sinn. Ich musste ihr die Wahrheit sagen.
»Ja, ich liebe dich, und nein, ich kann nicht mit dir zusammen sein.« Ich lächelte gequält. »Es klingt paradox«, sagte ich, »und der Fehler liegt ganz allein bei mir, wenn dir das ein Trost ist. Wenn es überhaupt je eine Frau in meinem Leben gegeben hat, dann warst du das. Es ist nur so, dass ich mich noch nicht bereit fühle für eine längere Beziehung. Noch nicht, wohlgemerkt. Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen.« Ich zwang mir ein Lächeln aufs Gesicht. »Und jetzt habe ich mich auch noch verspätet.« Ich wollte ihre Hand nehmen, doch sie zog sie weg.
»Ich habe schon begonnen zu glauben, du würdest mich wieder versetzen«, antwortete sie mit einem traurigen Lächeln.
»Mr. Ambrose hat mich aufgehalten. Ich konnte ihm leider nicht entwischen.«
»Was du nicht sagst.« Sie schien mit ihren Gedanken noch ganz weit weg zu sein.
»Ehrlich. Er hat mir eine Professur angeboten.«
Sie sah mich an. Ihre Augen schienen noch einen Stich grüner geworden zu sein.
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