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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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windzerzausten Platanen verschwunden war. Ich trank den letzten Schluck aus meiner Tasse und blickte missmutig in den Himmel.
    Es hatte zu schneien begonnen.

9
    Montag, 8. Februar
    Lac Télé, Kongo
     
    Egomo erwachte in der Astgabel eines Gumabaums, der seine mächtigen Zweige über den See ausbreitete. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Vögel, die die Wärme der aufgehenden Sonne mit schillernden Akkorden willkommen hießen. In der Nacht war ein kurzer Schauer niedergegangen, ein letzter Nachklang des schweren Gewitters vom Vortag.
    Egomo verzog das Gesicht. Über ihm hatte eine Gruppe Blauer Meerkatzen beschlossen, eine Ratsversammlung abzuhalten. Die schnatternden Stimmen der Affen waren zu laut, um sie länger zu ignorieren. Er strich sich über die Augen und spähte durch das Blattwerk. Das Wasser des Sees lag glatt und spiegelnd zu seinen Füßen, als bestünde es aus einem riesigen Libellenflügel, in dem sich das Licht des Himmels brach. Sein Nachtlager war zwar unbequem gewesen, aber es hatte Schutz vor den Raubtieren geboten, die jede Nacht im Mantel der Dunkelheit am Rande des Sees auf Beute lauerten. Außerdem hatte er gehofft, das Schlafen hoch oben über der Wasserfläche würde jenen Traum begünstigen, der ihm den Standort des Zwergelefanten verraten sollte. Stattdessen hatte er nur das Bild einer endlosen Wasserfläche heraufbeschworen, über die geisterhafte Nebelfetzen hinwegzogen. Unablässig hatten sie ihre Form geändert, waren ihm mal wie Tiere, mal wie verdrehte Menschenleiber erschienen. Seine überreizten Nerven hatten ihm sogar vorgegaukelt, die Gesichter längst verstorbener Ahnen zu sehen, die ihn ermahnten, sich auf keinen Fall weiter dem See zu nähern.
    Egomo schob das große Blatt, unter dem er geschlafen hatte, zur Seite und richtete sich auf. Einige Treiberameisen krabbelten über seine Oberschenkel und näherten sich seinen Genitalien. Er pflückte die zentimetergroßen Tiere von seiner Haut und steckte sie in den Mund – eine willkommene Abwechslung in seinem Speiseplan. Er bevorzugte zwar die Eier, aber fernab der vertrauten Umgebung durfte man nicht wählerisch sein. Genießerisch schloss er die Augen. Er liebte diesen leicht bitteren Nachgeschmack, auch wenn er immer Bauchschmerzen bekam, wenn er zu viel von den kribbeligen Baumbewohnern aß.
    Als er sein Frühstück beendet hatte, griff er nach seinen Waffen und kletterte an der glatten Rinde des Stamms hinab. Heute war ein guter Tag zum Jagen. Seine Armbrust lag leicht in der Hand, und der Köcher, der mit fünfzehn spitzen und gut ausbalancierten Pfeilen gefüllt war, fühlte sich glatt und geschmeidig an. Egomo war ein guter Jäger. Sein erstes Tier hatte er im Alter von fünf Jahren erlegt, eine Duickerantilope, die sich in einer Astgabel verfangen hatte. Später wurde er von den Männern seines Stammes in allen Techniken unterwiesen, die nötig waren, um das Dorf mit Nahrung zu versorgen. Er war ein gelehriger Schüler, auch wenn er es im Gegensatz zu allen anderen bevorzugte, allein loszuziehen. Der Gefahr, die er dabei einging, schenkte er keine Beachtung. Allein war er schneller und leiser. Und was das Risiko betraf: Bisher war alles gut gegangen.
    Vorsichtig lief er durch den Schilfgürtel, der den See umgab.
    Dies war das Gebiet der Boha, eines Stammes, mit dem die Bajaka in der Vergangenheit schon viel Ärger hatten. Meistens ging es um die Einhaltung von Jagdgrenzen, manchmal aber auch um Ansprüche auf Frauen. Auf jeden Fall war das Klima zwischen ihnen so feindlich, dass Egomo einer Begegnung aus dem Weg gehen wollte.
    Nach einiger Zeit fand er die Stelle, an der er vor drei Jahren dem Zwergelefanten begegnet war. Als er aus dem Schilf hinaus ins Freie trat, stockte er. Der Ort war nicht mehr wiederzuerkennen. Auf einer Fläche von mehreren hundert Metern musste vor einiger Zeit ein schreckliches Feuer gewütet haben. Das mannshohe Gras war niedergebrannt und hatte eine pechschwarze Rußschicht hinterlassen, aus der sich bereits erste grüne Triebe erhoben. War das wirklich dieselbe Stelle? Egomo betrachtete die umliegenden Bäume und kam zu dem Schluss, dass er sich nicht geirrt hatte. Aber was hatte diesen Brand ausgelöst?
    Jäger, dachte er. Weiße Jäger. Nur sie konnten so unvorsichtig sein, bei ihrer Suche nach Beute den halben Urwald abzufackeln. War das die weiße Frau gewesen, die durch sein Dorf gezogen war? Hatte sie ihn nicht immer wieder nach dem See gefragt? Möglich war es, denn

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