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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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diesem Moment dachte ich, wie seltsam es sein mochte, morgen aus dem Flugzeug zu steigen und die feuchte, dreißig Grad warme Luft auf meiner Haut zu spüren. Es kam mir vor, als würde ich zu einem fremden Planeten fliegen.
    »Na, schwere Gedanken«, sagte Sarah, während sie mir leicht ihre Hand auf die Schulter legte.
    »Mir ist kalt«, sagte ich.
    »Lass uns hochgehen. Ich werde dich schon wieder aufwärmen«, grinste sie und schloss die Tür auf. Während sie vor mir die Treppe hinaufstieg, konnte ich den Blick nicht von ihren Rundungen abwenden. Sarahs geschmeidige Bewegungen hatten eine geradezu magische Anziehungskraft. Ich musste grinsen. Das jahrtausendealte genetische Programm funktionierte tadellos. Und das Verblüffende daran war, es fühlte sich fantastisch an. Nicht zum ersten Mal kam ich mir vor wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden durchs Leben getragen wird. Gefesselt, aber mit einem Lächeln im Gesicht.
    Als wir an ihrer Tür im obersten Stock des Viktorianischen Bürgerhauses anlangten, beschloss ich, noch eine Weile so zu tun, als wären die Fäden nicht vorhanden. Das verschaffte mir wenigstens für den Moment die Illusion, ich wäre Herr der Lage.
    »Ich mach es uns schnell etwas wärmer«, sagte sie und eilte durch die Zimmer, um überall die Gasheizung aufzudrehen.
    Ich stand unentschlossen in der Wohnungstür. »Was ist denn? Komm rein und mach es dir bequem. Du kennst dich doch hier aus«, rief mir Sarah über die Schulter hinweg zu. »Ich muss noch schnell alle Ventile öffnen. Du kennst ja diese alten Gasetagenheizungen. Umständlich, aber dafür werden sie schnell heiß.«
    »Hmm«, nickte ich.
    Während ich ins Wohnzimmer schlenderte und mich umsah, kam mir deutlich zu Bewusstsein, dass Sarah für alles, was sich innerhalb dieser Wände befand, hart gearbeitet hatte. Sie war nicht mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen wie ich, sondern hatte von Anfang an hart arbeiten müssen. Umso überraschender war es, dass ihre Wohnung viel gemütlicher und stilvoller eingerichtet war als meine. Da standen Polstermöbel, die sie bei irgendeinem Trödler in der Portobello Road gekauft hatte, neben Buchregalen und Kleiderschränken aus preiswerten Designerläden in Notting Hill. Ich sah indische Kerzenhalter, eine tibetanische Gebetsmühle, Kunstdrucke von Kandinsky und Chagall. Ein wildes Sammelsurium. Aber merkwürdig, es passte alles zusammen, fügte sich zu einem harmonischen Ganzen, das Leben und Wärme ausstrahlte.
    »So«, sagte Sarah, als sie händereibend zu mir ins Wohnzimmer kam, »noch ein paar Minuten, und es wird richtig kuschelig. Verdammt, ist das in den letzten paar Stunden kalt geworden. Hatte der Wetterbericht nicht eine milde Luftströmung vorhergesagt?«
    »Hab ich auch gehört. Aber du weißt ja, wie das ist«, stimmte ich ihr zu. »Wir bekommen zwar immer mehr Satelliten, die die Erde umkreisen wie ein Hornissenschwarm und dabei auch noch Millionen von Pfund verschlingen, aber das Wetter macht trotzdem, was es will …« Ich zuckte mit den Schultern. » Hat doch auch etwas Beruhigendes, dass manche Dinge immer noch dem Willen der Natur gehorchen.« Sie lächelte, und ich vernahm etwas Hintergründiges in ihrer Stimme. »Was kann ich dir zum Aufwärmen anbieten, Glühwein, Port oder Absinth?«
    »Absinth?«
    »Yep. Es enthält das Nervengift Thujon. Das lässt einen schön weich in der Birne werden und darauf stehst du doch, oder?«
    »Klingt gut«, sagte ich und ließ mich in einen Sessel fallen. »Wie kannst du dir nur immer all dieses Zeug merken? Ich habe schon Schwierigkeiten, mir eine einfache Einkaufsliste einzuprägen.«
    »Ich lese ab und zu auch mal Dinge, die mit der Uni nichts zu tun haben.« Sarah stellte zwei bauchige Gläser auf den Tisch, über die sie speziell perforierte Löffel legte. Dann platzierte sie je einen Zuckerwürfel darauf und übergoss die Konstruktion mit einer ölig grünen Flüssigkeit. »Feuerzangenbowle?«, grinste ich.
    »So ähnlich, ja.«
    Der Geruch von Anis stieg mir in die Nase. Sarah verdünnte den Inhalt des Glases mit etwas Wasser, bis er hellgrün und milchig wurde und zündete die Zuckerwürfel an. Blaue Flammen züngelten empor. Das Feuer spiegelte sich in ihren Augen, die dieselbe Farbe wie der Absinth zu haben schienen. Nachdem der Würfel zur Hälfte geschmolzen und ins Glas getropft war, nahm sie die Löffel herunter und rührte so lange, bis sich der restliche Zucker gelöst hatte.
    »Auf dein Wohl«,

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