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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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eins bis acht waren für Unversehrte vorgesehen, vorwiegend Neue aus West. Sein Name war auf einem Platz an Tisch vier eingetragen, der von Gerd wieder an Nummer sieben. Fünf Plätze waren da besetzt. Wo war Gerd? Am oberen Ende erkannte er Helga, die in West die Teestube „Interim“ geleitet hatte. Sie sah sehr blass aus, drehte den Kopf immer wieder zur Tür. Wartete sie auf jemanden? Vielleicht ebenfalls auf Gerd?
    An Tisch vier war nur der für ihn bestimmte Stuhl unbesetzt. Er sagte Guten Morgen und setzte sich hin. Sich vorzustellen, erübrigte sich. Wie in West waren vor den Gedecken die Namenskarten aufgestellt. Von Gerd wusste er, dass sich in Süd alle duzten. Er prägte sich die Vornamen seiner Tischnachbarn ein.
    An Tisch zwölf saß Nicole Weber, die streitbare Französin, bisher das vierte Gesicht in Süd, das er von West her kannte. Ihre Verstümmelung versetzte ihm wiederum einen Stich. Sie winkte ihm zu, mit der Hand, die ihr verblieben war, und rief:
    „Ich habe dich irgendwann schon gesehen.“
    „Ich dich auch – und gehört obendrein, vor langer Zeit in West. Ich glaube, es war im ‚Tulpenkorb‘, du warst in Begleitung von zwei Herren, die du recht ungehalten verlassen hattest.“
    „Ah –! Erinnere mich, es ließ sich trefflich mit ihnen streiten. Der Dicke mit der Hornbrille, wie heißt er doch gleich … egal, der ist ebenfalls hier.“
    Sie zeigte mit dem Kinn in die Richtung zu Tisch Nummer zwei und wandte sich ihrem Brötchen zu, das sie einhändig behände mit Butter bestrich. Edmund konnte den Buchhalter von seiner Position aus nicht ausmachen.
    „Zeigt euch nicht beeindruckt“, riet Mirco Schlei, er saß Edmund gegenüber und meinte damit ihn und zwei weitere, die erst seit gestern hier waren, „sondern irgendwie gleichgültig bis apathisch. Vergnügtheit wäre unglaubwürdig, auch wenn euch dieses Theater gelänge, aber um alles in der Welt dreht nicht durch und tragt auch keine ausgesprochenen Depressionen zur Schau, sonst bekommt ihr noch vor eurer ersten Ampu eine rosarote Brille gespritzt und hebt ab.“
    „Woher weißt du das?“, fragte der Schmächtige rechts neben Edmund.
    „Ich bin seit drei Wochen hier. In dieser Zeit kriegt man das eine oder andere mit“, antwortete Mirco.
    „Wenn ich aber“, wandte die junge Frau zu seiner Linken ein, „gegen solch eine rosarote Brille gar nichts einzuwenden hätte, sondern im Gegenteil …“
    „Nichts einfacher als das! Zieh die Schnute, nach der einem hier sowieso zumute ist, oder, wenn es schnell passieren soll, brüll rum und schmeiß mit Sachen um dich. Aber Achtung! Die rosarote Brille ruft eine künstliche Demenz hervor. Doof und froh, oho oho, wenn du weißt, was ich meine.“
    „Mirco, also drei Wochen bist du bereits hier. Wie lange, schätzt du, dauert hier der Aufenthalt, bis man zum ersten Mal gerupft wird?“, fragte Edmund.
    „Du bleibst so lange ungerupft, um bei deiner Terminologie zu bleiben, wie deine Werte und Maße keinem Kunden des Vereins angepasst sind. Da kann man nur hoffen.“
    Helene Steuben brach das Schweigen, das eingetreten war:
    „Was hast du davon, Mirco, wenn deine Maße nie passen, du aber zur Herzamputation gerufen wirst?“
    „Wenig. Zugegeben. Wenig.“
    Der Gong zeigte das Ende der Frühstückszeit an. Stühlerücken, Füßescharren, Krückenklicken, Abmarsch. Gerd war nicht erschienen. Edmund holte die Französin ein.
    „Nicole, du kennst doch Gerd Schäfer. Er ist nicht zum Frühstück gekommen.“
    Nicole zuckte mit den Schultern.
    „Den Dicken mit der Hornbrille – er heißt übrigens Helmut Forst – habe ich vorhin nicht gesehen, doch dazu wird es bestimmt noch Gelegenheit geben. Was ist mit dem anderen, dem Architekten, ist der nicht hier in Süd?“
    „Günter Reise? Nö! Der ist bereits in Nord, der arme Teufel. Und Theo – du kennst doch Theo – da vorne fährt er grad mit dem Rollstuhl durch die Tür, du kannst ihn von hier aus von hinten sehen, Theo hat kein Bein mehr.“
    Edmund schluckte.
    „Verflucht! – Und Reiser in Nord. Das heißt …“
    „Alles ab, bis auf Kopf und Hals.“
    Bereits in Nord. Grausen. Entsetzen. Panik. Bereits. Bereits. Er hat es bereits erreicht, das Ende vor dem Ende. Unser aller Ziel. Eine schlimmere Vokabel als bereits gibt es nicht. „Bereits in Repuestos -Nord“. Um ihn her wurde gesprochen, geplaudert, auch das Wort an ihn gerichtet – er nahm nichts von alledem wahr, verharrte in einem statischen Zustand, die Stimmen

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