Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
musste er etwas zu sich nehmen, um nicht abzubauen. Da kamen ihm Makkaroni und Apfelbrei in den Sinn. Zehn Jahre war er alt oder elf, als er das zum letzten Mal gegessen hatte, aber das war ihm jetzt gerade recht. Es stand nicht auf der Karte, doch der Kellner meinte, das ließe sich machen.
„Na los, Gerd! Ich höre. Wie bist du davongekommen?“
„Also – ich lag angeschnallt auf der Schlachtbank. Der Anästhesist war dabei, die Vorbereitungen zu treffen. Da flog die Tür auf und Dr. Werner kam hereingestürzt, auf mich zu, umarmte und herzte mich wie ein Baby und rief: ‚Junge, du bist für diesmal aus dem Schneider. Der Kunde aus Venezuela, für den deine Niere vorgesehen war, ist letzte Nacht gestorben. Herzinfarkt‘.“
„So ein Glück!“ Edmund massierte sich die Stirn. „Wäre Dr. Werner dein Chirurg gewesen?“
„Ja. Er macht den Job seit zwei Jahren. Bei jeder Operation blutet sein Herz.“
„Und wenn er sich weigerte, Menschen zu verstümmeln?“
„Ab in die Konservierung, ist doch klar. Und verhindern würde er damit nichts. Der nächste Chirurg auf der Warteliste bekäme seine Chance. Ärzten wird in Süd eine Schonfrist zwischen fünf und zehn Jahren gewährt, erst danach sind auch sie Kandidaten für den Operationstisch.“
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du noch mal heil davongekommen bist.“
„Ich erst! – Fragt sich, für wie lange. Aber bald glaube ich an einen Schutzengel. Es war heute das zweite Mal, dass ich solches Glück hatte. Was heißt solches, beim ersten Mal war es noch viel größer.“
Edmund sah ihn fragend an.
„Diesmal wäre es nur um eine Niere gegangen und deren habe ich immerhin zwei. Zwei Herzen aber besitze ich nicht.“
„Was sagst du da? Die wollten dir das Herz rausschneiden?“
Gerd nickte und lehnte sich im Stuhl zurück. Edmund fror.
„Mein Gott.“
Gerd seufzte auf, wollte sprechen, doch die Erinnerung an den grausigen Tag in Repuestos -Ost blockierte seine Kehle: Im Vorraum des Versorgungssaals, in den ihn zwei chinesische Spender geschoben hatten, standen fünf Rollwagen mit Herzspendekandidaten, bleich und stumm mit einfältigem Lächeln auf den Gesichtern – die Panik lag hinter ihnen – Wunder der Pharmazie. Bei ihm schien es nicht zu wirken, bei seinem nächsten Nachbarn offensichtlich nur mäßig, er wurde gesprächig, kaum dass die Chinesen den Raum verlassen hatten.
„Jetzt werden Herz und Blut ein letztes Mal unmittelbar vor der Transplantation überprüft. Nebenan im Versorgungssaal leben die, die eine solche Prüfung mit positivem Ausgang hinter sich haben. Sie hängen allesamt an einer gemeinschaftlichen Herz-Lungen-Maschine. Bald – vielleicht morgen schon, gehören wir dazu.“ Sagte es und fing fürchterlich zu weinen an.
Gerd konnte nicht glauben, dass er zur Herzamputation vorgesehen war. Das passierte doch nicht ihm! Unmöglich! Man hätte ihn doch darauf vorbereitet. Oder? Tränen rannen ihm seitwärts ins Haar. Das Wundermittel hatte bei ihm eine bleierne Müdigkeit bewirkt. Er war erschöpft und er schlief ein.
Er erwachte durch tastende Berührungen seines Brustkorbs, zwei Pfleger hantierten an ihm mit einem Maßband und gaben Zahlen in einen Computer ein. Einer der beiden tätschelte seinen Kopf:
„Schlafen Sie ruhig weiter.“
„Ich müsste mal austreten!“, rief er ihnen hinterher, worauf einer sich umwandte.
„Unter der rechten Armlehne Ihres Rollstuhls befindet sich ein Knopf, den müssen Sie drücken. Hat Ihnen das niemand gesagt?“
Seine rechte Hand ertastete den Knopf und betätigte ihn. Sofort erschienen die zwei Chinesen. Sie schoben seinen Rollsessel in eine geräumige Toilette, öffneten die Gurte und warteten vor der Tür, um ihn hinterher wieder anzuschnallen und zurückzurollen.
Am Abend rollten sechs Pfleger sechs Teewagen mit dem Abendessen für die sechs Kandidaten der bevorstehenden sechs Herzamputationen innerhalb der nächsten sechs Tage in den Vorraum und verschwanden eiligst. Unter jeder der kunstvoll arrangierten Servietten befand sich ein Briefumschlag mit dem Aufdruck: Wichtige Information. Gerd riss ihn auf, entnahm die „wichtige Information“, die lautete, dass er am Folgetag an der Reihe war. Als Erster der sechs.
Edmund erkannte, dass Gerd, in schmerzliche Erinnerungen vertieft, seine Umgebung vergessen hatte. Er wartete geduldig auf die Antwort.
„Ja, das wollten sie – mir das Herz herausschneiden.“ Er gewahrte
Weitere Kostenlose Bücher