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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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die gefüllten Schalen, unberührt, und sagte: „Edmund, es hilft nichts, wir müssen das Zeug schlucken, kalt schmeckt es noch scheußlicher.“
    Sie löffelten schweigend die braune Brühe und schoben die Schalen von sich. „Brrr!“
     
    „Ich kann nicht beschreiben, was ich fühlte, als man im OP-Saal auf dem fahrbaren Gestell neben dem Tisch, auf dem ich angeschnallt lag, die Bestecke bereitlegte, die Infusion zur Betäubung klarmachte und meinen Körper mit Ausnahme von Brust und Nase mit einem grünen Tuch abdeckte … und dann, plötzlich, Dr. Hilperts leise Worte direkt an meinem Ohr: Ich glaube, ich kann es verhindern . Laut sagte er: ‚Aktivitäten einstellen, ich muss zunächst eine Meldung an die Zentrale absetzen.‘ Er hatte bei der unmittelbar vor Herzamputationen vorgeschriebenen letzten Ultraschalluntersuchung eine winzige Erhebung am Rande der linken Herzklappe ausgemacht, die bis da nicht entdeckt worden war. Obwohl kleiner als eine Linse, verhindert sie das komplette Schließen der Klappe. Dr. Hilpert übermittelte der Zentrale mit einem Kommentar das Bild.
    Die Aktion wurde abgeblasen! Was sich da in meinem Kopf abspielte, ist unbeschreibbar. Ich staune noch heute, dass ich nicht übergeschnappt bin vor Glück.“
    Ein schiefes Lächeln huschte über Gerds Gesicht, als er sagte: „Als Herzspender komme ich nun nicht mehr in Betracht, schneubisch, wie die sind.“
    „Schneubisch??“
    „Ah ja, du stammst nicht aus Hessen. Auf Deutsch: anspruchsvoll.“
    Edmund wollte über den bitteren Witz nicht lachen, er war wie benommen. Jetzt war alles klar. Das Greisenantlitz, die schlohweißen Haare. Gerd fuhr fort:
    „Ich hab sie gesehen, die Herzamputierten, auch Frauen und sogar vier Kinder, als ich, in diesem Rollstuhl fest verschnürt, durch den Versorgungssaal zum Warteraum vor dem OP geschoben wurde. Den Warteraum trennte von diesem Saal lediglich eine große Schiebetür aus Glas. Du machst dir keine Vorstellung von diesem – wie soll ich sagen – Elend trifft es bei Weitem nicht. Sie sitzen angeschnallt in Lehnsesseln auf eingebauten Kloschüsseln mit elektrischer Reinigung und Spülung ... Vor sich ein Pult für die Mahlzeiten, über sich Fernseher mit Kopfhörer … Fernsehen ist alles, was ihnen vom Leben übrig geblieben ist. Unter dem Fernseher zeigt eine Lichtleiste die Kreislaufwerte an. Aus Gefäßen, die an der Decke hängen, rinnen Flüssigkeiten durch dünne Schläuche zu den Röhrchen, die durch Kanüle mit den Venen der Herzspender verbunden sind. Ein etwas dickerer Schlauch ragt ihnen aus der Brust, der mit einer großen Maschine verbunden ist, die rhythmisch pulsiert und den Saal mit einem unheimlichen Geräusch erfüllt: die Multi-Herz-Lungen-Maschine. Ein Wahnsinnsaufwand zur tiefsten Erniedrigung geschundener Kreaturen.“
    „Betrieben einzig“, sagte Edmund, „um die Organe der herzlosen Spender zur weiteren Verwendung zu erhalten.“
    „So ist es, ja. Zehn Pfleger führen Aufsicht und kontrollieren die Digitalanzeigen an den Wänden und über den Sesseln.“
    Edmund schossen Tränen in die Augen und Schauer über den Rücken.
    „Das hier“, sagte Gerd und durchfuhr mit ausgestreckten Fingern seinen weißen Haarschopf, „meine neue Haarfarbe, meine ich, ist an jenem Tag entstanden, wie auch mein neues Gesicht. Als ich danach zum ersten Mal in einen Spiegel sah, erkannte ich mich nicht wieder. Ich sah auch den Schrecken in deinen Augen, als du nach Süd kamst und mich in der Turnhalle gesehen … und dir viel Mühe gegeben hattest, dir nichts anmerken zu lassen.“
    Edmund presste die Lippen wieder aufeinander und malte mit dem Griff der Gabel imaginäre Dreiecke aufs Tischtuch.
    „Entschuldige, ich wollte dich nicht verlegen machen, ganz im Gegenteil. Nur ein Roboter wäre an deiner Stelle nicht erschrocken gewesen.
    Mein Nachbar in dem Warteraum, in den mich die zwei chinesischen Spender geschoben hatten, konnte es nicht lassen, unentwegt auf mich einzubabbeln. Noch als ich einschlief beziehungsweise so tat als ob, babbelte er nach einer Pause erneut weiter. ‚Ich weiß auch‘, sagte er, ‚wer mein Herz bekommt. Ein Industriemagnat aus Kalifornien. Die Werte sind alle verglichen und für in Ordnung befunden worden. Ich wünsche mir sehnlichst, bei meinem Abschlusstest würde sich doch noch herausstellen, dass ich HIV-positiv bin. Dann würde ich von dem Gespenst dieser Operation befreit und in der Wäscherei oder der Müllentsorgung beschäftigt werden.

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