Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
„Sachte!“, mahnte Gerd. Man brauchte in Süd zwar nicht zu wandeln, rennen aber war nicht erlaubt. Hier durfte man gehen. Sie riefen der Gestalt nach, doch sie reagierte nicht. Es bestand kein Zweifel mehr, es war Gustav. Da er wandelte wie in West, holten sie ihn bald ein. Er sah sie nicht an, sondern starr geradeaus und wandelte geradeaus weiter, die Hände hinterm Rücken ineinander gekrallt. Sie haben ihn zerbrochen, schoss es Edmund durch den Kopf, die verdammte Apathie hat ihn kaputt gemacht.
„He Gustav! Schön, dich zu sehen!“
„Du musst nicht so schreien“, sagte Gustav, „das tut in den Ohren weh.“
„Gustav, wir sind gekommen, dir Guten Tag zu sagen. Weißt du denn nicht, wer wir sind?“
Ohne seinen Gang zu unterbrechen und ohne seine Körperhaltung zu ändern, antwortete er mit blitzschnellem Blick nach jeder Seite: „Du bist Edmund. Wir gingen zusammen zur Schule. Das Jüngelchen kenne ich nicht.“
„Es ist Gerd. Du hast ihn kennengelernt, damals, in Süd. Wir drei saßen mit Angela in der Teestube.“
„Angela?“
„Bleib doch mal stehen, Gustav, und reich uns die Hand!“
Da stand er still, ließ die Hände auf dem Rücken und schüttelte den Kopf.
„Geht nicht. Gehört mir nicht.“
„Deine Hand?“
Gustav nickte.
„Wem gehört sie denn?“
„Dem Sohn eines fernen Königs.“
„Das tut mir unendlich leid ...“
„Mir nicht. Ist in Ordnung. Der Arm ist mir sowieso im Weg.“
Dass seine Stimme klang wie immer, wandelte die Groteske ins Gespenstische. Edmund und Gerd sahen sich an und wussten nicht weiter, während Gustav wieder seinen Weg fortsetzte, Fuß vor Fuß, und geradeaus sah, so, als nähme er die beiden nicht wahr. BIID, fuhr es Edmund durch den Kopf, Body Integrity Identity Disorder. Ein äußerst seltenes Phänomen, ein Rätsel, das die Medizin noch nicht gelöst hatte. Adaptieren an die Lebensweise Behinderter aus dem überwältigenden Wunsch heraus, ihnen zuzugehören. Hatte das die Apathie an dem Freund bewirkt? Sie ließen sich von seiner abweisenden Art nicht beirren und liefen rechts und links neben ihm her. An der nächsten Ecke bog er in die Amselgasse ein. Am Ende der Gasse hielt Gustav vor einem breiten Tor, öffnete es und sie traten alle drei in einen großen Raum mit Orgelmusik. Es war die Kirche von Repuestos -Süd, von der Straße her nicht als solche zu erkennen, in der an geraden Tagen katholischer und an ungeraden Tagen evangelischer Gottesdienst stattfand. In die Wand hinter dem Altar waren von der Decke bis zum Boden acht schmale Lichtfenster mit buntem Glas eingelassen, biblische Szenen darstellend. In den vorderen Reihen der Bänke aus dunklem Nussbaumholz saßen etwa zwei Dutzend Spender, die meisten teilamputiert. „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, sangen sie. Gustav sang voller Inbrunst mit und nahm den äußersten linken Platz der sechsten Reihe ein. Edmund und Gerd setzten sich ans linke Ende der siebten Reihe und hörten zu. Nach der Stelle im Lied „… will ich ihm halten stille“ erscholl ein Schrei aus der vordersten Reihe: „Ich nicht! Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Die letzten beiden „Scheiße“ wurden erstickt durch die Stimmen der Gemeinde, die den Text nun nahezu brüllten, um den Störer zu übertönen. Es war ein ungeheures Getöse, das wie die Orgel plötzlich erstarb, als der Pfarrer auf Krücken die Kanzel bestieg. Er blickte eine Minute lang mit ernster Miene auf seine kleine Gemeinde hinunter, ehe er die Bibel aufschlug und zu sprechen begann.
„Hiob fünf, Vers siebzehn bis neunzehn. Selig ist der Mensch, den Gott straft. Darum weigere dich der Züchtigung des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet. Er zerschlägt, und seine Hand heilt. Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Übel rühren.
Brüder und Schwestern, wir schweigen zwei Minuten und jeder unter uns ruft sich die böseste Tat in Erinnerung, die er im Leben begangen hat und tief bereut.“
Die Stille, die eintrat, wurde zwei, drei Mal durch leises Schluchzen unterbrochen. Vor Edmunds geistigem Auge zappelte ein Menschlein zwischen aufbrausender Heckwelle und Gischt. Sein Trotz bäumte sich auf. Ich habe ihn nicht über Bord gestoßen – nur das Manöver zu spät eingeleitet –, doch das bereue ich nicht! Aber sicher war Edmund sich keineswegs – irgendwo biss es ihn, das Gewissen, und irgendwie wünschte er, das Ereignis habe nie stattgefunden, obwohl ... Wer weiß, wie vielen
Weitere Kostenlose Bücher