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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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Liebschaft meint Liebe – unpathetisch formuliert. Liebe, zu der zwei gehören. Wie Lydia und er. Wenngleich die kreatürliche Anziehung ein Faktor ist, den man nicht unterschätzen, aber auch nicht mit Liebe verwechseln darf. War es bei Lydia und ihm nicht etwas ganz anderes gewesen? Er erschrak: War? Wirklich war ?
    Ihre Vereinigung hatte immer Vereinigung ihrer Seelen bedeutet. Edmund liebte ihre Augen. Wenn er die seinen schloss, konnte er Lydia im Geist wiedererkennen, ihr Gesicht war in sein Gedächtnis zurückgekehrt – seit ein Zeitungsartikel den, vordem verleugneten, Lofotendruck von ihm genommen hatte.
    In der Bücherstube waren nur noch wenige Plätze frei. Marlene hatte einem der Tische jeweils rechts und links von ihr einen Stuhl angekippt, hielt den beiden somit zwei Plätze frei. Gerd suchte die Regale nach Habermas ab, um eine Stelle nachzuschlagen, die gestern Abend kontrovers diskutiert worden war und deren Zusammenhang er nicht erkannt hatte. Die Werke des umstrittenen Philosophen waren alle vergriffen, offenbar teilten etliche mit ihm das gleiche Problem. Da man ohne Buch den Lesesaal nicht aufsuchen durfte, zog Gerd einen beliebigen Band aus dem Belletristik-Regal. Edmund kam soeben durch die Tür und tat es ihm nach. Sie setzten sich zu Marlene.
    „Die Diskussionsgemeinde vergrößert sich von Abend zu Abend“, flüsterte Gerd und warf einen Blick auf sein herausgefischtes Buch. Hemingway. Ausgerechnet. Der lag ihm trotz seiner kernig-knappen Sprache überhaupt nicht. Er klappte das Werk gar nicht erst auf.
    Noch war es ruhig im Raum, abgesehen von zwei leisen Stimmen an Tisch drei. Sie schleuderten sich allerlei verbalen Unrat um die Ohren. Die Oberlichtbeleuchtung verblasste zunehmend, Abenddämmerung vortäuschend, Laternen leuchteten auf. Alles wie in West, dachte Edmund. Von der Decke hingen Leselampen tief herunter, erhellten die Tische und blendeten nicht die Augen. Die Tür flog auf, Franz Gerschpacher spazierte herein.
    „Ach“, sagte Edmund, „gleich hören wir das Wort zum Sonntag, ich dachte, der sei noch in West.“
    „Er ist vor vier Tagen rübergekommen und mit frommen Sprüchen is nix mehr. Stattdessen geht er einem mit selbst gestrickten Politsongs auf die Nerven, aber kaum jemand beachtet ihn.“
    Franz bestieg einen Schemel und sang aus voller Brust: „Blau, blau, blau blüht der Enzian, rot, rot, rot blüht Berlin,
    Marxisten, Bolschewiken schreiten rasch voran, ziehen her und hin.“
    Edmund hatte seit Mittag Bauchgrimmen, verbunden mit gurgelnden Lauten aus der Nabelgegend. Der Gedanke, dass man das hören könnte, beunruhigte ihn und veranlasste ihn zu sagen: „Ich vertrage die Vorsuppe nicht.“
    „Das ist so in den ersten beiden Wochen“, tröstete ihn Gerd. „Danach … Ah! Ich glaube, es geht los. Pass auf.“
    Da war sie auch schon, die erste aufgebrachte Stimme und läutete die Streitrunde ein.
    Sie kam von einer attraktiven, wenn auch nicht mehr jungen Rothaarigen, die Edmund schon im Frühstückszimmer aufgefallen war. „Quatsch nicht so gescheit daher!“, herrschte sie Alexander Heine an, der neben ihr saß. Was er „gequatscht“ hatte, war von sonst niemandem gehört worden. Ihr fehlte wie ihm ein Arm, aber sie hatte noch beide Beine. „Ohne unsere Bewegung hätte sich nichts mehr bewegt, gar nichts !“
    „Ach, Ingeborg, hör schon auf“ – jetzt erst erkannte Edmund sie, Ingeborg Wengler! Ihr Gesicht hatte sich sehr verändert und dazu die rot gefärbten Haare! – „Alles, was ihr bewegt und erreicht habt, wäre auch ohne euch eingetreten, die Zeit dazu ist einfach reif gewesen, das Alte hatte sich überlebt. Die Revolte war in allen Punkten überflüssig und hirnrissig. Unsere Wirtschaft funktionierte zunehmend gut. Die Arbeiterschaft war von keinerlei revolutionärem Klassengeist beseelt, weil er unnötig geworden war. Die ‚Arbeiterklasse‘ war in das kapitalistische System integriert und mit diesem Zustand einverstanden. Es herrschte längst Demokratie und es gab Möglichkeiten, politische Veränderungen auf legalem Weg durchzusetzen.“
    „Ja, die Demokratie … und das Elend in der Dritten Welt …“
    „Jaja, und die Unterdrückung der farbigen Bevölkerung in den USA – diese Missstände waren weiß Gott nicht durch den Versuch, markusische Hirngespinste in die Realität umzusetzen, aus der Welt zu schaffen. Und auch nicht durch Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-Rufe, mit denen angeheizte Studenten, die seit jeher für jeden radikalen

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